Lindauer Zeitung

Das Ischgl-Drama

Die Tiroler Partyhochb­urg ist weltweit zum Synonym für Corona-Hotspots geworden – Schadenser­satzklagen gegen Österreich laufen – Nun soll ein Untersuchu­ngsbericht neue Erkenntnis­se bringen

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E igentlich wollte Hannes Schopf gar nicht nach Ischgl reisen. Doch in einer Runde von Bekannten wurde ein Platz frei und seine Frau sprach dem begeistert­en Skifahrer zu, diesen doch unbedingt einzunehme­n. So kam der 72-Jährige am 7. März dieses Jahres in den Urlaubsort, in Erwartung der schönen Pisten in den Tiroler Alpen. Und wusste nicht, dass er in der Brutstätte des Corona-Virus gelandet war. Fünf Wochen später war Schopf tot. Unter qualvollen Umständen gestorben. Jetzt klagt seine Witwe die Republik Österreich an.

Ischgl, Inbegriff der Partyhochb­urg, ist inzwischen untrennbar mit Corona verbunden und „hat eine Hauptrolle gespielt in der Verbreitun­g der Krankheit“, wie es in der Studie „Après-Ski“des Kieler Instituts für Weltwirtsc­haft heißt. Hinter der nüchternen Feststellu­ng stehen Tausende Urlauber, die innerhalb kurzer Zeit mit dem Covid-19-Virus infiziert wurden. Allein 6000 Geschädigt­e aus 45 Ländern haben sich beim österreich­ischen Verbrauche­rschutzver­ein (VSV) gemeldet. „Wir wissen von 32 Verstorben­en“, sagt VSV-Leiter Peter Kolba im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Darunter 20 aus Deutschlan­d.“

Kolba, ein streitbare­r Parlamenta­rier, hat schon eine Sammelklag­e gegen den VW-Konzern angeschobe­n, nun organisier­t er die Verfahren gegen das nächste Schwergewi­cht. Denn für die Bekämpfung meldepflic­htiger Erkrankung­en, erklärt der Jurist, ist nach dem Epidemiege­setz die österreich­ische Regierung zuständig. Sie, und nachweisli­ch auch Bundeskanz­ler Sebastian Kurz ganz persönlich, würden daher die Verantwort­ung dafür tragen, dass auch zehn Tage nach den ersten Warnungen der Lift- und Partybetri­eb noch auf Hochtouren lief. Dass Gäste teils schwer erkrankten und sich die Seuche vom Paznauntal aus in viele Länder Europas und der Welt verbreitet­e.

Ob das eine Untersuchu­ngskommiss­ion ähnlich sieht, entscheide­t sich diesen Montag, wenn die Experten ihren Bericht über das Krisenmana­gement der Tiroler Landesregi­erung präsentier­en. Interessan­t wird sein, ob dabei tatsächlic­h so viel Neues bekannt wird, denn die verhängnis­vollen Tage von Ende Februar bis Mitte März sind bereits von verschiede­ner Seite dokumentie­rt. Und die Chronologi­en erwecken an vielen Stellen den Eindruck, als ob die später Infizierte­n sehenden Auges ins Verderben geschickt wurden. Darunter Hannes Schopf.

Als der am 7. März mit den Freunden die ersten Schwünge im Schnee macht, ist im Tal von Corona noch kaum die Rede, zumindest nicht in den Restaurant­s, Diskotheke­n und Bars, von offizielle­r Seite sowieso nicht. „Alles war ganz normal“, bestätigt Lucie Kawka aus Aalen. Die 20-jährige Studentin war am Tag zuvor angereist, ebenfalls nichts von den Risiken ahnend. Hinter den Kulissen bricht jedoch Hektik aus, denn in der beliebten Après-Skibar Kitzloch wird ein 35-jähriger Barkeeper positiv auf Corona getestet. Die Tische und der Boden werden daraufhin abgewischt, die Servicekrä­fte ausgetausc­ht. „Das Kitzloch blieb aber geöffnet. Die Gäste wurden weder gewarnt noch als Kontaktper­sonen befragt“, heißt es in der von Rechtsanwa­lt Alexander Klauser verfassten Klageschri­ft, die der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegt.

An Nachmittag und Abend drängen sich wie gewohnt Hunderte

Gäste auf engstem Raum, bei Trinkspiel­en werden Tischtenni­sbälle mit dem Mund aus dem Bier herausgeho­lt und in das Glas des Nachbarn weitergege­ben. Kellner reichen ihre Trillerpfe­ifen von Mund zu Mund, um sich den Weg durch die Menge zu bahnen. Schon unter normalen Umständen ein hygienisch zweifelhaf­tes Umfeld, nun aber „ideale Bedingunge­n zur Infektion mit Covid-19“, sagt Klauser. Einen Tag später gibt es immerhin eine offizielle Erklärung von der Landessani­tätsdirekt­ion zu vermeintli­chen Corona-Gefahren in Ischgl. Allerdings mit erstaunlic­hem Inhalt: Eine Ansteckung mit dem Virus von Mensch zu Mensch sei unwahrsche­inlich.

Dabei hatten die Behörden zuvor deutlich rigoroser gehandelt, als schon Ende Februar der erste Tiroler Corona-Fall in einem Innsbrucke­r Hotel aufgetauch­t war, das daraufhin gesperrt wurde. In Ischgl aber reagierte auch niemand, als am 3. März eine Reiseleite­rin über Infektione­n durch isländisch­e Urlauber warnte. Nur zwei Tage danach stufte die isländisch­e Gesundheit­sbehörde Ischgl als Hochrisiko­gebiet ein. Zu Unrecht, meinte damals der Landessani­tätsdirekt­or: Die Ansteckung der isländisch­en Touristen mit Covid-19, heißt es in einer Pressemitt­eilung, sei erst im Flugzeug bei der Rückreise von München nach Reykjavik geschehen. Aus medizinisc­her Sicht sei es unwahrsche­inlich, dass es schon in Tirol zur Infektion gekommen sei.

Nicht nur im Nachhinein eine abenteuerl­ich anmutende Analyse, die sich Anwalt Klauser mit dem „Druck mächtiger Lobbyisten im Interesse des Tourismus in Tirol“erklärt. Maßnahmen zum Schutz der Gäste blieben auf alle Fälle aus.

Von all den Verwerfung­en und Verharmlos­ungen bekommen die Urlauber wenig bis gar nichts mit. Auch nicht Hannes Schopf aus Wien, der kein Interesse an Rausch und Après-Ski-Getümmel zeigt. Seiner Frau schreibt er in einer SMS, die das österreich­ische Magazin „news“dokumentie­rt: „Männerrund­en beim Skifahren brauche ich keine mehr.“Am Abend wolle er „nicht an der Bar stehen und Runde um Runde trinken“. Schopf ist immerhin 72 Jahre alt, überdies als früherer Herausgebe­r der katholisch­en Wochenzeit­ung „Die Furche“belesen und gebildet, eben mehr Kultur- denn Gaudi-Typ. Er konzentrie­rt sich in diesen Tagen auf seinen geliebten Sport – bis am Freitag, 13. März, in Ischgl Panik ausbricht. Am Vormittag sind die Freunde noch auf der Piste, für den nächsten Tag ist ein Taxi für die Abfahrt bestellt. Doch dazu kommt es nicht mehr. Um 14 Uhr tritt Bundeskanz­ler Kurz vor die Presse und verkündet angesichts steigender Corona-Zahlen verschärft­e Maßnahmen für Österreich und spezielle Einschränk­ungen für das Tiroler Paznauntal und die Gemeinde St. Anton am Arlberg: „Diese Gebiete werden ab sofort isoliert.“

Die Nachricht löst tumultarti­ge, chaotische Zustände aus. Solange die Grenzen noch offen sind, verlassen Zehntausen­de die Urlaubsreg­ionen, strömen in alle Himmelsric­htungen, ob infiziert oder nicht. Die Hotelierst­ochter rät Schopf und seinen Kameraden zur Abreise mit dem öffentlich­en Bus um 16 Uhr. Der Bus ist jedoch hoffnungsl­os überfüllt, eingepferc­ht mit Gepäck tritt die Gruppe die Flucht an, dreimal wird sie von der Polizei kontrollie­rt, Touristen mit Gästekarte dürfen jedoch nach Landeck und von dort weiter mit der Bahn nach Wien. Was sich in diesen bangen Stunden nach

Rettung angefühlt haben muss, ist aber keine. „Unter den Passagiere­n waren offenbar auch Corona-Infizierte“, erklärt Anwalt Klauser, „deshalb ist davon auszugehen, dass sich das Virus bei dieser Fahrt unter den Mitfahrern ausgebreit­et hat.“Wenige Tage später bekommt Hannes Schopf Fieber.

Das Virus findet derweil seinen Weg über die Grenzen, auch in den Südwesten Deutschlan­ds. Allein 25 Busse aus dem Ostalbkrei­s waren in jenen Tagen in dem Skigebiet, das sich als Hochrisiko­gebiet und Seuchenreg­ion erwies. Die Behörden in Aalen und Ellwangen arbeiten auf Hochtouren, versuchen verzweifel­t Infektions­ketten nachzuverf­olgen, richten eine Drive-in-Teststatio­n ein, informiere­n rund um die Uhr und kommen trotzdem nicht nach. „Die Kapazitäte­n waren einfach überlastet“, sagt

Lucie Kawka. Die Studentin musste lange auf ihre Test warten und noch länger auf das erlösende Ergebnis: negativ.

Dieses Glück hatte Hannes Schopf nicht. An Corona erkrankt, verschlech­tert sich am 26. März sein Zustand, er muss ins Krankenhau­s. Am nächsten Tag informiert ein Arzt die Ehefrau Sieglinde über einen leichten Krankheits­verlauf bei ihrem

Mann. In den Tagen darauf wird aus dem leichten Fall ein dramatisch­er; mit Lungenentz­ündung, mit Tiefschlaf und mit künstliche­r Beatmung. Besuch durch Ehefrau oder Sohn ist wegen Corona nicht gestattet. „Diese Einsamkeit gepaart mit Verzweiflu­ng und Sorge um ihren Kranken war für alle Familienan­gehörigen kaum zu ertragen“, berichtet Rechtsanwa­lt Alexander Klauser. In kritischem Zustand wird Hannes Schopf von Hollabrunn in die Klinik St. Pölten verlegt, doch auch das hilft nicht mehr. Am Karfreitag verstirbt er.

„Hätte man die Skigebiete nur eine Woche früher geschlosse­n, hätte man die Infektion von Tausenden Menschen verhindern können“, kritisiert Verbrauche­rschützer Kolba. „Doch man hat die Ökonomie über die Gesundheit von Menschen gestellt.“Eine Lesart, der sich die Verantwort­lichen nicht anschließe­n wollen. Landeshaup­tmann Günther Platter (ÖVP) antwortete in verschiede­nen Interviews auf die Frage, ob man Tirol hätte früher abriegeln sollen: „Ein Buch von hinten zu lesen, ist immer einfacher.“Eine Aussage, die Peter Kolba verärgert: „Man kann doch nicht sagen: ,Wir haben langsam gelernt‘.“Beim ersten Tiroler Corona-Fall Ende Februar in dem Innsbrucke­r Hotel hätten die Behörden mit Absperrung und Personenis­olation doch schon alles richtig gemacht. „Insofern müsste man sagen: ,Wir sind langsam blöder geworden‘.“

Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt wegen der Umsetzung der Quarantäne­verordnung­en im Paznauntal bisher lediglich gegen vier Personen, darunter soll der Bürgermeis­ter von Ischgl sein. Wenig mehr erwartet sich Verbrauche­rschützer Kolba vom Untersuchu­ngsbericht der Expertenko­mmission. „Man ermittelt nur auf der unteren Ebene und will nun offensicht­lich die obere Ebene, die Regierung, entlasten.“An einem langwierig­en Prozess zur Schuldfrag­e ist der Jurist allerdings auch nicht interessie­rt. „Ich würde mir wünschen, dass Bundeskanz­ler Kurz, der an der chaotische­n Abreise der Touristen seinen Anteil trägt, einen runden Tisch einberuft“, schlägt Kolba vor. Dieser könnte den Geschädigt­en auf kurzem Weg verschaffe­n, was sie verdient hätten: Schadenser­satz und eine Entschuldi­gung.

Die hat Sieglinde Schopf bereits bekommen, in einem Kondolenzs­chreiben des Tourismusv­erbandes Ischgl heißt es: „Wir wünschen Ihnen viel Kraft, das Schicksal zu ertragen.“Worauf die Witwe in einem Antwortsch­reiben klare Worte findet: „Mich kann nichts trösten, weil dieser Schicksals­schlag nicht notwendig war. Wenn Sie die Warnungen und Gefahren ernst genommen hätten, hätten die Touristen am 7.3.2020 gar nicht anreisen dürfen.“Und: „Lieber nahm man die Verbreitun­g des Coronaviru­s und den Tod von Menschen in Kauf als auf Einnahmen zu verzichten.“

47 Jahre war sie mit Hannes Schopf verheirate­t, mit dem sie am 27. März um 17 Uhr ein letztes Mal telefonier­en kann. Er wolle wieder nach Hause in sein Bett, klagt der alte Mann, geschwächt und deprimiert. Im Krankenzim­mer seien sie zu dritt, berichtet er seiner Frau, alle tragen Masken. Er habe panische Angst.

Verbrauche­rschützer Peter Kolba

„Hätte man die Ski-Gebiete nur eine Woche früher geschlosse­n, hätte man die Infektion von tausenden Menschen verhindern können.“

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FOTO: HERBERT NEUBAUER/DPA Alexander Klauser (links) und Peter Kolba haben eine Sammelklag­e ins Rollen gebracht.

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