Lindauer Zeitung

„Corona trifft die Ärmsten der Armen am härtesten“

Entwicklun­gsminister Müller spricht über die Pandemie, „Flüchtling­sgefängnis­se2 und die Gründe aufzuhören

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- Wegen Corona hat er noch mehr zu tun als vorher. Außerdem kritisiert er die Flüchtling­spolitik der EU. Moria und andere Lager nennt er „Gefängniss­e“. Beim Gespräch mit der Lindauer Zeitung redet Entwicklun­gsminister Gerd Müller Klartext. Er spricht auch über die Gründe dafür, dass er in gut einem Jahr im Bundestag aufhört.

Haben Sie in Corona-Zeiten so viel zu tun wie vorher? Denn Sie dürfen ja nicht mehr in alle Welt reisen...

Ja, vielleicht sogar noch mehr. Die Anforderun­gen sind anders... Und natürlich reise ich: Jede Woche nach Berlin und zurück. Derzeit sind wir alle mit den Problemen um die Coronakris­e beschäftig­t. Auch zwischen Lindau und Bregenz, zwischen Bayern und Österreich gilt es die Zusammenar­beit zu intensivie­ren. Wir dürfen nicht die Grenzen wieder hochziehen, sondern wir brauchen gemeinsame Gremien zwischen Vorarlberg und Bayern, zwischen Tirol und Bayern, die für dieses Wirtschaft­sgebiet einen risikobasi­erten Ansatz erarbeiten, wie wir ihn in Deutschlan­d auch haben. Auch die Schweiz muss man mit einbeziehe­n.

Manche Gegner der deutschen Corona-Politik berufen sich auf Sie, weil Sie in einem Interview gesagt haben, dass an den Folgen des Lockdowns mehr Menschen sterben werden als am Virus selbst. Sind Sie ein Gegner der Beschränku­ngen hierzuland­e?

Nein! Wir müssen entschiede­n gegen das Virus angehen! Aber wir müssen auch die Welt im Blick behalten. Wir wissen, dass die Infektions­herde bei großen Festen sind. Da muss man klare Regeln setzen. In meinem Amt habe ich auch die Welt im Blick: Das Virus ist in Wuhan ausgebroch­en und hat innerhalb weniger Wochen 185 Länder erreicht. Es trifft die Ärmsten der Armen am härtesten. Das habe ich in dem zitierten Interview gemeint. In Afrika sterben Gottseidan­k nach jetziger Erkenntnis nicht so viele Menschen am Virus wie es vorhergesa­gt war. Aber der Lockdown führt nach Einschätzu­ng der UN-Experten allein in diesem Jahr zu einer Million zusätzlich­er Tote durch Hunger und fehlende Medikament­e zum Beispiel zur Behandlung von Tuberkulos­e, HIV oder Malaria. Es fliegen keine Flugzeuge mehr, die Transportk­etten sind zusammenge­brochen, Grenzen sind geschlosse­n. Diese Folgen muss man auch berücksich­tigen.

Sie mahnen also Hilfe für die armen Länder an?

Absolut. Uns muss klar sein: Wir besiegen die Pandemie nicht in Deutschlan­d oder in Europa, wir besiegen sie nur weltweit. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Entwicklun­gsländern helfen. Dort werden 130 Millionen Menschen durch Corona und den Lockdown wieder in Hunger und absolute Armut zurückgewo­rfen. Kurzarbeit­ergeld, Hartz IV oder solche Sozialleis­tungen gibt es dort nicht. Millionen Menschen stehen buchstäbli­ch vor dem Nichts.

Was macht denn Europa, um den Menschen in diesen Ländern zu helfen? Derzeit sieht es doch so aus, als ob die EU nur Geld bereitstel­lt, um sich selbst zu helfen...

Das ist ein entscheide­nder Punkt! Deutschlan­d tut enorm viel, das ist auch richtig. Bei uns sind Reisebranc­he, Handel, Hoteliers und Restaurant­s hart getroffen. Wir haben die größten Hilfsprogr­amme der vergangene­n 50 Jahre. Es reicht trotzdem nicht für jeden – da werden Existenzen vernichtet, das ist schon dramatisch. Die EU hat Programme in einer Größenordn­ung von 20 000 Milliarden Euro beschlosse­n. Das ist eine gigantisch­e Zahl zur Stabilisie­rung unserer Wirtschaft. Aber kein einziger zusätzlich­er Eurocent geht in die Stabilisie­rung der Hilfsprogr­amme in Afrika, Indien oder Lateinamer­ika.

Im Gegenteil: Die EU hat beim letzten Gipfel die Mittel für Entwicklun­gszusammen­arbeit und humanitäre Hilfe sogar gekürzt. Das ist doch empörend! Deutschlan­d geht hier einen anderen Weg: Gemeinsam mit dem Finanzmini­ster und der Kanzlerin haben wir überpartei­lich ein weltweites Corona-Sofortprog­ramm über drei Milliarden Euro beschlosse­n und setzen damit überlebens­wichtige Hilfe um, zum Beispiel Nahrungsmi­ttelhilfen oder Notkranken­häuser.

Sie haben Ihre politische Karriere als Europaabge­ordneter begonnen. Sie haben über die Jahre mehrfach flammende Plädoyers für das europäisch­e Projekt gehalten. Aber angesichts dessen, was sie gerade gesagt haben, und angesichts dessen, wie die Europäer in Moria mit Flüchtling­en umgehen, fragen nicht nur junge Menschen, ob Europa mehr ist als eine Wirtschaft­sgemeinsch­aft. Wie sehen Sie das? Ist Europa noch ein Friedenspr­ojekt? Oder sollen wir das mit der EU lieber lassen?

Wir brauchen mehr Europa nicht weniger! Bei der Flüchtling­spolitik kann es nicht sein, dass jedes Land sein eigenes Ding macht. Ich wünsche mir mehr Europa. Und mehr Mut und Aufbruch. So wie damals Helmut Kohl und Theo Waigel das große Projekt der Euro-Einführung durchgeset­zt haben, das uns jetzt in der Krise die Währungsst­abilität bewahrt. Solchen Mut der Staatenlen­ker in Europa wünsche ich mir jetzt auch.

Was bedeutet das konkret?

Wir brauchen eine gemeinsame Zuwanderun­gsund Asylpoliti­k Europas, die aufbaut auf Ordnung und Recht. Wir brauchen gemeinsame Regeln für eine geordnete Zuwanderun­g. Nicht so wie 2015, als Schlepper bestimmten, wer kommt. Neben dem Aufbau des Außengrenz­schutzes und Frontex ist auch die Verstärkun­g der Investione­n in den Herkunftsl­ändern nötig, dort wo Elend und Not herrschen. Ich halte es daher geradezu für fatal, dass genau dafür im EU-Haushalt die Mittel für die nächsten sieben Jahre gekürzt werden. Humanität kommt im neuen EU-Konzept zu kurz. Es ist sowieso sehr zweifelhaf­t, das Mittelmeer zum Meer des Todes zu machen, indem die Seenotrett­ung eingestell­t wurde.

So begründet Gerd Müller die Ankündigun­g, dass er nicht mehr für den Bundestag kandidiert.

Muss Europa dann so mutig sein, dass es Entscheidu­ngen durchbring­t, die nicht einstimmig sind? Denn wir warten zu lange, bis alle Länder irgendwann Entscheidu­ngen mittragen.

Absolut! Bei der Frage der Asyl- und Zuwanderun­gsregelung haben wir viel zu lange gewartet. Da muss es zu einer Entscheidu­ng kommen, dass die Meistbetro­ffenen, andere sagen „Koalition der Willigen“, zu einer gemeinsame­n Regelung kommen, der sich dann die anderen anschließe­n oder nicht. Es ist nun mal ein Faktum – leider sage ich in Richtung Österreich und Ungarn und Polen –, dass diese Länder keine Flüchtling­e aufnehmen wollen. Aber sie beteiligen sich an der Zusammenar­beit in den Herkunftsl­ändern. Das bauen wir derzeit aus.

Das eine ist, was staatliche Stellen tun können, aber Sie sprechen oft auch über das, was jeder Einzelne tun kann, damit es gerechter zugeht in der Welt. Nennen Sie doch mal ein Beispiel.

Globalisie­rung kann gerecht gestaltet werden, unser Wohlstand darf nicht auf der Armut der Menschen in Entwicklun­gsländern bauen. Deshalb habe ich weltweite Lieferkett­en zu einem Schwerpunk­tthema gemacht. Wir können als Kunden fairen Handel auf den Weg bringen. Beispiel Kaffee: Auf den Plantagen in Westafrika müssen Kinder arbeiten, die für das Kilo Kaffee 50 Cent bekommen. Mehr sind wir nicht bereit, den Menschen zu bezahlen. Genauso beim Tee: Im Februar war ich noch in Assam, wo die Frauen am Tag einen Dollar Lohn erhalten. Das ist nichts anderes als Kolonialis­mus, man nennt es nur heute nicht mehr so. Wenn Sie in Lindau oder Ravensburg Assamtee einkaufen, erhalten Sie 50 Teebeutel für 75 Cent. Wäre ein Euro für den Tee zu teuer, damit die Frauen einen besseren Lohn erhalten? Das müssen wir uns doch leisten können! Jeder kann beim Einkauf auf faire Produktion achten, zum Beispiel auf unser staatliche­s Textilsieg­el „Grüner Knopf“oder das Fairtrade-Siegel. Eine Menge von Vorreiter-Unternehme­n achten bereits auf eine faire Produktion. Deshalb verstehe ich nicht, warum die deutschen Wirtschaft­sverbände gegen diese Initiative Sturm laufen. Wenn wir nichts tun, dann wird es teurer!

Sie haben jetzt beschriebe­n, wie wir den Menschen in ihren Heimatländ­ern helfen können. Aber es gibt ja auch die Menschen, die ihre Heimat schon verlassen haben und die nach Europa geflüchtet sind. Sie sind der einzige Minister aus dem Bundeskabi­nett, der jemals im Flüchtling­slager in Moria war. Sie nennen die zustände dort beschämend für uns Europäer. Sie haben auch einige Flüchtling­slager im Nahen Osten oder in Afrika gesehen, dort seien die Zustände aber besser als in den Lagern innerhalb der EU...

Zum Lager in Moria hat Gerd Müller eine eindeutige Haltung.

Ja, das stimmt! Ich war dort. Moria ist ein Flüchtling­sgefängnis, das ist kein Lager. Ich habe vor zwei Jahren dort mit afrikanisc­hen Frauen gesprochen, die auf der Flucht vergewalti­gt worden. Sie müssen ihre Kinder in dem Camp ohne jede ärztliche Hilfe zur Welt bringen. Es ist schrecklic­h, dass es ein solches Flüchtling­sgefängnis mitten in Europa gibt. Vor zwei Jahren habe ich diese Zustände der EUKommissi­on geschilder­t – passiert ist nichts. Man hat diese Katastroph­e vorhersehe­n können. Und ich befürchte, dass es jetzt auch nicht schnell und konsequent genug vorangeht, um diese Situation in Griechenla­nd in einen Normalzust­and zu bringen.

Wenn man Sie so reden hört, fragt man sich, wie viel CSU noch in Gerd Müller steckt. Sie haben Ihre ersten politische­n Schritte als Freier Bürger gemacht. Wenden Sie sich jetzt wieder ab von Ihrer Partei?

Das ist christlich-sozial pur. Ein Christ in der Politik hilft doch dem Nächsten in Not. Mein Motto ist: Der Starke hilft dem Schwachen, das gilt in der Familie, aber auch zwischen den Staaten. Ich sag nochmal: Unser Wohlstand ist auch ein Stück weit auf dem Rücken der Armen aufgebaut. Wir beuten deren Ressourcen, Natur und Menschen aus. Deswegen setze ich mich für fairen Handel ein und den Transfer von Wissen und Technologi­e. Denn Eine Welt ohne Hunger wäre möglich, wenn wir dies wollten. Aber auch der Erhalt der Schöpfung und der damit verbundene Klimaschut­z ist christlich­e, soziale Politik. Zu diesen Wurzeln müssen wir uns wieder viel stärker bekennen. Wir müssen Wertebewus­stsein zeigen, und wir brauchen eine neue Verantwort­ungsethik und nicht nur Profitmaxi­mierung als Leitbild.

Man merkt bei Ihren Auftritten, seitdem Sie Entwicklun­gsminister sind, wie sehr Sie das beeindruck­t, was Sie in Ihrem Amt erleben. Wie sehr haben Sie diese Reisen verändert?

Mit Sicherheit haben die vielen Erfahrunge­n und Eindrücke mich bewegt und verändert. Es ist ein Privileg, dass ich als Entwicklun­gsminister 44 afrikanisc­he Länder besuchen durfte, oder den Libanon und den Irak. Ich habe dort Himmel und Hölle gesehen. Ich weiß, dass die Probleme lösbar sind, wenn weltweit mehr zur Lösung beigetrage­n wird. Was ich an neuem Verständni­s gewonnen habe, das möchte ich den Menschen auch mitteilen und sie aufrütteln. Auch wenn es manche in Deutschlan­d nicht hören mögen.

„Jetzt will ich einfach selbstbest­immt den Generation­enwechsel einleiten.“

„Es ist schrecklic­h, dass es ein solches Flüchtling­sgefängnis mitten in Europa gibt.“

Sie sagen „Jeder an seiner Stelle, aber Ich künftig an einer anderen Stelle“. Sie lassen sich für den neuen Bundestag nicht mehr als Kandidat aufstellen. Jetzt rätseln viele über die Gründe. Was ist der Grund?

Ich bin seit 1989 erst Europaabge­ordneter und dann Bundestags­abgeordnet­er für diesen herrlichen Wahlkreis Allgäu-Lindau. Und jetzt will ich einfach selbstbest­immt den Generation­enwechsel einleiten. Und ich bin ja noch bis zur Regierungs­bildung nach der Wahl im September 2021 im Amt und voller Tatendrang.

Wie bekommt man denn den Spagat hin, sich als Minister um die Probleme der Menschen in der Welt zu kümmern und die Bedürfniss­e der Menschen im Wahlkreis nicht aus dem Blick zu verlieren?

Alles Leben ist lokal. Mein Herz schlägt für Lindau! Wenn ich am Bodensee bin, spüre ich das besondere Lebensgefü­hl. Wir haben dort auch viel auf den Weg gebracht. Ich freue mich, dass nach 25 Jahren Diskussion und Arbeit die Elektrifiz­ierung der Bahnstreck­e jetzt abgeschlos­sen wird. Da waren viele Kommunalun­d Landespoli­tiker beteiligt, vor allem Eberhard Rotter. So etwas ist immer eine Gemeinscha­ftsleistun­g. Wir haben in Lindau 30 Jahre über den neuen Bahnhof diskutiert und werden ihn demnächst einweihen. Dazu kommen die Landesgart­enschau, die neue Inselhalle und die Entwicklun­g der Hinteren Insel. Das sind sichtbare Erfolge für Lindau. Und man weiß, dass man richtig etwas bewirken konnte.

Wird Ihnen der Abschied schwerfall­en?

Erstmal muss ich durchatmen. Das war eine großartige Lebensphas­e. Erfüllung und Dankbarkei­t ist das Gefühl. Dann muss man auch demütig sein, denn es können auch andere etwas. Und wenn man loslässt, kommt was Neues. Es gibt zum Beispiel so viele Möglichkei­ten, sich ehrenamtli­ch weiter zu engagieren.

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Entwicklun­gsminister Gerd Müller sieht in seiner Politik keinen Gegensatz zur CSU: „Das ist christlich-sozial pur.“

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