Was Zeiterfassung am Arbeitsplatz bringt
Arbeitszeiten genau zu protokollieren, sehen viele kritisch – Doch Beschäftigte können davon profitieren
Am Abend nach Dienstende ein Gespräch mit einem Kunden geführt, am Wochenende dem Chef die ad hoc gewünschte Stellungnahme gemailt und an einem regulären Arbeitstag die Pause ausgelassen: Nicht immer wird in Unternehmen die tatsächlich erbrachte Arbeitszeit eines Beschäftigten erfasst.
Dieser Praxis hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) inzwischen einen Riegel vorgeschoben. Die Richter entschieden im Mai 2019, dass die Arbeitszeit zum Schutz der Beschäftigten vollständig erfasst werden muss. Beginn, Pause(n), Ende, Ruhezeiten. Aber: Das Urteil ist in Deutschland noch nicht in nationales Recht überführt, sprich: ein Arbeitszeiterfassungs-Gesetz gibt es noch nicht.
Was heißt das nun für den Alltag in deutschen Unternehmen? „Daran scheiden sich die Geister“, sagt Nathalie Oberthür, Fachanwältin für Arbeitsrecht in Köln sowie Vorsitzende des Ausschusses Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein. Manch einer beruft sich darauf, dass hierzulande das Arbeitszeiterfassungs-Gesetz noch aussteht. Andere, darunter auch Oberthür, sagen, dass Arbeitgeber schon jetzt die Pflicht haben, sich unionsrechtskonform zu verhalten und Arbeits- wie Ruhezeiten genau zu erfassen.
So sieht es auch DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. „Einzelne Arbeitsgerichte haben bereits den vom EuGH formulierten Maßstab ihrer Rechtsprechung zugrunde gelegt“, sagt sie. Das Arbeitsgericht
Emden hat im
Februar 2020 entschieden, dass ein Arbeitgeber gegen seine Pflicht verstoßen hat, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, um die Arbeitszeit eines Beschäftigten zu erfassen. Dabei berief sich das Gericht auf Artikel 31 Absatz 2 der EU-Grundrechtecharta.
Dem Urteil lag der Fall eines Bauhelfers zugrunde, der nach einer mehrwöchigen Tätigkeit unter anderem die Vergütung von weiteren 12,05 Stunden aus dem Jahr 2018 verlangte und hierzu eine Übersicht sowie handschriftliche Notizen vorlegte. Das Argument der beklagten Arbeitgeberin, sie habe die – geringere – tägliche Arbeitszeit mit dem Kläger in einem Bautagebuch festgehalten, ließ das Gericht nicht gelten.
„Letztendlich geht es bei der Arbeitszeiterfassung um Transparenz für beide Seiten“, sagt Oberthür. Aber auch um Schutz für die Beschäftigten. Schutz vor ausufernden Arbeitszeiten, vor unbezahlten Überstunden und unsichtbarer Arbeitszeit.
Nathalie Oberthür, Fachanwältin für Arbeitsrecht
Die Arbeitszeit kann mit unterschiedlichen Methoden erfasst werden. „Das kann zum Beispiel über eine kostenlose App, ein aufwendiges System oder händisch in einer ExcelDatei oder Tabelle erfolgen“, erklärt Oberthür.
Eine andere Option: Der Arbeitnehmer hält seinen Finger an einen Scanner, über den das Unternehmen die Arbeitszeit eines Beschäftigten vermerkt. Möglich ist etwa auch eine webbasierte Erfassung: Dabei loggt sich der Beschäftigte zu Arbeitsbeginn in ein System ein. Macht er eine Pause oder Feierabend, loggt er sich aus. Voraussetzung für dieses Modell: Eine permanente Internetverbindung.
Denkbar ist etwa auch ein elektronisches Terminal am Eingang eines Unternehmens. Der Beschäftigte hält beim Betreten oder Verlassen des Gebäudes etwa einen Ausweis vor ein Gerät, das die Daten auf einem Chip speichert. Welche Vorgehensweise
die beste ist, lässt sich pauschal nicht sagen. „Im Jahr 2020 ständig von der Stechuhr zu reden, ist jedenfalls aus der Zeit gefallen“, erklärt Piel.
Wichtig ist, dass die Arbeitszeit objektiv, manipulationssicher und verlässlich erfasst wird. Aus Sicht des DGB ist es Aufgabe der Betriebsund Personalräte sowie der Arbeitgeber, die für den eigenen Betrieb oder die eigene Branche am besten passende Lösung zu finden.
Von einer akribischen Arbeitszeiterfassung profitieren beide Seiten, sowohl Arbeitgeber als auch Beschäftigte. Unternehmen haben so die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung inklusive Überstunden eines Einzelnen im Blick.
Beschäftigte können durch die exakte Zeiterfassung ihren Einsatz nachweisen – ist er überdurchschnittlich, kann das ein überzeugendes Argument zum Beispiel bei Gehaltsverhandlungen sein. Arbeitnehmer
können auch von sich aus sich für eine Zeiterfassung in ihrem Betrieb starkmachen – sofern das Unternehmen das noch nicht macht. „Aktuell wird diskutiert, ob dem Betriebsrat hierbei ein Initiativrecht zusteht“, so Oberthür.
Die Angst, dass eine Zeiterfassung flexiblen Arbeitszeitmodellen in die Quere kommen könnte, hält Piel für unbegründet. „Beispielsweise bleiben ja Gleitzeitregelungen, Vereinbarungen zu mobilem Arbeiten oder Vertrauensarbeitszeit von der Zeiterfassung völlig unberührt“, erklärt die Gewerkschafterin.
Was auch für die Arbeitszeiterfassung spricht: „Dadurch wird transparent, wie häufig in der Arbeitswelt gegen die bestehenden Arbeitsschutzbestimmungen verstoßen wird“, sagt Oberthür. Ob diese zugunsten flexiblerer Arbeitszeitmodelle modernisiert werden sollten, müsse nun der Gesetzgeber entscheiden. (dpa)
„Letztendlich geht es bei der Arbeitszeiterfassung um Transparenz für beide Seiten.“