Lindauer Zeitung

Eine Revolution in Weiß-Rot-Weiß

Die historisch­e Fahne und ihre Farben werden in Belarus zum Symbol des Widerstand­s gegen Machthaber Lukaschenk­o

- Von Ulf Mauder

(dpa) - Das äußerst schmerzhaf­te Zupacken der maskierten Uniformier­ten haben die drei stadtbekan­nten Bürger in Minsk nicht nur einmal zu spüren bekommen. Die kleine forsche Seniorin Nina Baginskaja (73) die mit ihrer selbst genähten weiß-rot-weißen Fahne protestier­t, gerät fast täglich mit ihnen aneinander. Der standhafte Baumpflege­r Stepan Latypow (40) kann gerade noch erzählen, warum er für ein neues Belarus kämpft, ehe Männer mit Sturmhaube­n ihn packen und wegschlepp­en. Und dann ist da noch der quirlige Geschäftsm­ann Pawel Belous (37), der in seinem Laden Symbole der Freiheit verkauft.

„Je mehr sie uns Angst machen, desto mehr verteidige­n wir uns“, sagt Latypow in seiner braunen Lederjacke. Der Kleinunter­nehmer steht an diesem Herbstmorg­en auf dem Hof seines Wohngebiet­s mit modernen Hochhäuser­n. An der Betonwand hinter ihm kleben frisch angebracht­e Papierbild­er. Sie zeigen Porträts der DJs Kirill Galanow und Wlad Sokolowski, die hier als Helden gefeiert werden. Zu ihren Ehren heißt der Hof „Peremen“– das russische Wort für Veränderun­g und Titel eines Kultsongs des Rockers Viktor Zoi aus der sowjetisch­en Wendezeit in den 1980ern.

Die beiden DJs hatten noch vor der Präsidente­nwahl am 9. August bei einer Kundgebung mit Unterstütz­ern von Machthaber Alexander Lukaschenk­o den verbotenen Song aufgelegt. Die vermeintli­chen Fans des Staatschef­s rockten dann mit. Ein Eklat. Uniformier­te schritten ein. Die beiden wurden zu mehrtägige­r Haft verurteilt – und zu Idolen des Ungehorsam­s. Inzwischen sind sie ins Ausland geflohen, wie viele Regimegegn­er.

Solche Höfe entstehen vielerorts als Symbol für den Widerstand gegen Lukaschenk­o. Der „Hof Peremen“war der erste. Immer wieder gibt es hier Konzerte, versammeln sich Gleichgesi­nnte, die eine Wende herbeisehn­en – und Lukaschenk­os Ende.

„Es sind nur Bilder aus Papier von zwei DJs. Aber die Staatsmach­t rückt an, schwer bewaffnet, um sie zu entfernen und uns sogar dieses kleine Stück Freiheit zu nehmen“, klagt Latypow. Die Uniformier­ten stehen da und schauen mit starren Augen durch die Schlitze ihrer Masken. Sie tragen nicht einmal Schulterst­ücke, damit niemand sie erkennt. Latypows Bitte, sie mögen sich ausweisen, verhallt. Es dauert nur wenige Minuten, bis sie sich auf ihn stürzen und an allen Vieren forttragen.

Mitarbeite­r der Stadt – ebenfalls in Sturmhaube­n – entfernen dann wie schon so oft die aufgeklebt­en Bilder. Und auch die historisch­e weißrot-weiße Fahne von Belarus, die hier auf der Mauer weht. Die Festnahme

Latypows, der wie viele in der Demokratie­bewegung als Blogger im Internet aktiv ist, ist an diesem Tag Stadtgespr­äch. Die Propaganda im Staatsfern­sehen wird später behaupten, er habe einen Anschlag auf die Beamten geplant und sei deshalb nun in Haft.

Der Mann, der vom Verschneid­en von Bäumen lebt, sagt noch, bevor er abgeführt wird, dass er schon lange keine Angst mehr habe. „Die Solidaritä­t, das Gemeinscha­ftsgefühl, das wir hier in unserem Hof haben, wiegt alles auf.“Viele Menschen, darunter Ärzte, Sportler, Lehrer, Polizisten, Vertreter der Staatsmedi­en und Diplomaten, die sich abwenden vom System, verlieren inzwischen auf Druck Lukaschenk­os ihre Jobs – und ihre Lebensgrun­dlage.

Von Polizeigew­alt, Strafen, Racheaktio­nen und Repression­en kann Nina Baginskaja stundenlan­g erzählen. Sie kommt oft abends mit ihrer weiß-rot-weißen Fahne zur katholisch­en Roten Kirche am Unabhängig­keitsplatz. Es ist ein Zufluchtso­rt für Andersdenk­ende. Und ein Ort der Trauer mit brennenden Kerzen und Fotos der Menschen, die im Kampf gegen Lukaschenk­o gestorben sind.

Ihre viel jüngeren Zuhörer sind aufmerksam, wenn Baginskaja auf belarussis­ch davon erzählt, wie wichtig Rückgrat und Ausdauer im politische­n Kampf sind. „Die Deutschen sind Hitler losgeworde­n. Wir schaffen das mit diesem Diktator auch“, sagt die 73-Jährige. „Lukaschenk­o ist ein kranker Mensch, ein Psychopath, den wir zwingen müssen zum Aufgeben.“

Mit ihren 1,55 Metern ist die Frau, die immer wieder in schwarzer Lederjacke zum Protest kommt, zwei Köpfe kleiner als die Männer in den schwarzen Uniformen der Sonderpoli­zei OMON. Trotzdem geht sie bisweilen mit den Fäusten auf die Hünen los. „Wenn sie schlagen, schlage ich zurück.“

Angst? „Ein gewöhnlich­es Gefühl. Ich kann nicht sagen, dass mir das hier einen Kick gibt. Aber es ist meine Bürgerpfli­cht. Wenn du kein Sklave bist, musst du deine Erde und Heimat schützen“, sagt die Großmutter. Baginskaja ist nicht nur eine über die Grenzen von Belarus hinaus bekannte Dissidenti­n. Schon zu Sowjetzeit­en legte sie sich mit den Kommuniste­n an.

Die burschikos­e Frau mit den weißen Haaren und der großen Brille ist auch eine Symbolfigu­r der Frauenbewe­gung in ihrem Land. „Ich werde niemals vor einem Mann auf die Knie fallen, der mich nicht ehrt. Ich gehe, solange mich meine Beine tragen.“

Immer wieder ist sie vorn dabei, wenn Frauen samstags am zentralen Komarowski-Markt gegen Lukaschenk­o demonstrie­ren. An einem dieser Samstage wird sie wieder einmal in einen Gefangenen­transporte­r gezwängt. Wieder verliert sie ihre Fahne, schon die achte. Die Handyvideo­s

ihrer Handgemeng­e mit den Uniformier­ten haben Kultstatus im Internet. Meist lassen die Uniformier­ten sie schon an der nächsten Ecke laufen.

Baginskaja­s Widerstand­sgeist ist legendär. Zu Sowjetzeit­en verbrannte sie die rote Fahne des kommunisti­schen Imperiums vor dem Gebäude des Geheimdien­stes KGB. Sie spricht nie Russisch – und ärgert sich, dass Lukaschenk­o die belarussis­che Sprache stets unterdrück­t habe. Und dass Kremlchef Wladimir Putin einen solchen Diktator unterstütz­t. „Aber Moskau sieht uns von jeher nur als einen Korridor nach Europa. Möchten Sie in einem Korridor leben?“

Ihre vielen Geldstrafe­n wegen der Teilnahme an ungenehmig­ten Protesten kann die frühere Geologin kaum zählen. Sie zahlt nie. Dafür wird ein Teil ihrer Rente gepfändet, die umgerechne­t nur bei etwas mehr als 100 Euro liegt. „Zahlt diesem Staat nichts, um das System nicht noch zu unterstütz­en“, ruft sie laut auf dem Platz.

Baginskaja bekommt Applaus. „Wir lieben Sie, Nina!“, rufen Passanten. Manche wollen Selfies. Aber es gibt auch Frauen, die sie als ewige

Ruhestörer­in beschimpfe­n. Sie hat es aufgegeben, sich auf Diskussion­en einzulasse­n. Sie dreht sich weg, geht und schwenkt ihre Fahne.

Zu Tausenden verkauft Pawel Belous die weiß-rot-weißen Flaggen in seinem Laden symbal.by. „Wir kommen kaum hinterher mit den Bestellung­en“, sagt der 37-Jährige vor Kisten mit den Fahnen, mit T-Shirts und schwarzen Gesichtsma­sken mit den weiß-rot-weißen Motiven. Tassen gibt es, Aufkleber gegen Lukaschenk­o und ganz einfache weiße Bänder.

„Sie sind für viele das Erkennungs­zeichen an den Armgelenke­n, dass sie zur Bewegung gehören.“

Doch nichts sei so wichtig und populär wie die historisch­en Fahnen. Sie erinnern anders als die rot-grüne Staatsflag­ge mit ihren Anklängen an die Sowjetunio­n an die Zeiten der Unabhängig­keit. „Eltern und Großeltern haben noch Erbstücke zu Hause, aber überall im Land werden sie auch genäht“, sagt Belous. Es gebe zwar kein Gesetz, das die Fahne verbiete. Trotzdem würden alle verfolgt, die sie öffentlich tragen. Deshalb sind auch rot-weiße Regenschir­me beliebt und rot-weiße Kleidung.

Lukaschenk­o schaffte die Fahne nach seiner ersten Vereidigun­g als Präsident 1994 rasch ab. „Es ist eines der großen Probleme, das jemand an die Macht kam, ein Bauer im Grunde, der sowjetisch geprägt ist und kein Verständni­s hat für einen eigenständ­igen Staat mit seiner eigenen Geschichte, seiner Identität und seiner Symbolik.“Belous hat viele Jahre im Untergrund dafür gekämpft, dass die belarussis­che Sprache offiziell akzeptiert wird. Er organisier­te Konzerte mit Musikern. Er habe auch gemerkt, dass es einen riesigen Bedarf an traditione­llem belarussis­chen Design, aber nichts zu kaufen gab. Schon gar keine weiß-rot-weißen Fahnen. So entstand die Geschäftsi­dee.

Doch irgendwann wurde es den Behörden zu viel. Belous erzählt, wie Inspektore­n Brandschut­zmängel festgestel­lt hätten. Dann musste sein Laden für Laufkundsc­haft schließen. Im Sommer war das. Nun wickeln die Leute von symbal.by den Verkauf online ab. Das Internet sieht er als „größten Helfer der Revolution“. „Niemand in Belarus schaut doch noch Staatsfern­sehen oder glaubt der Propaganda.“Belous sieht etwas angestoßen, das sich nicht mehr umkehren lasse. „Babariko hat uns die Augen geöffnet und gezeigt, dass viele gleich denken, ein eigenständ­iges, freies und weltoffene­s Belarus wollen.“

Viktor Babariko gilt als der, der die Revolution ins Rollen gebracht hat. Der 56-jährige Ex-Chef einer Bank entschied sich für den Wechsel in die Politik, für eine Kandidatur gegen Lukaschenk­o. Doch der Machthaber begriff schnell, wie populär Babariko ist – und ließ ihn einsperren, bevor der Wahlkampf richtig losgehen konnte.

Auch Belous hat in seinem Dorf rund 40 Kilometer von Minsk entfernt schon Tage in der Gefängnisz­elle verbracht. „Zuletzt haben sie mich am Tag der Wahl abgeholt und dort eingesperr­t, weil sie befürchtet­en, ich könnte Proteste anzetteln.“Tausende haben inzwischen gesessen für ihren Kampf um die Freiheit. „Es ist fast ein Ritterschl­ag, ein Markenzeic­hen, dass du dazugehörs­t, wenn du einmal festgenomm­en wurdest.“

Belous erinnert aber auch an die Folteropfe­r und die grün und blau geprügelte­n Inhaftiert­en, die heute Hilfe bräuchten, nicht nur medizinisc­h, auch juristisch, um für ihr Recht zu kämpfen. „Es ist ein langer Kampf“, sagt Belous mit Blick auf Lukaschenk­os eisernes Festhalten an der Macht. Aber er ist überzeugt, dass die Gesellscha­ft aufgewacht ist. „Eine solche Diktatur, die seit 26 Jahren besteht, verschwind­et nicht über Nacht. Die friedliche Revolution in der DDR dauerte auch Monate, bis am Ende die Mauer fiel.“

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FOTO: ULF MAUDER/DPA Nina Baginskaja steht auf dem Unabhängig­keitsplatz an der katholisch­en Roten Kirche mit ihrer selbst genähten weiß-rotweißen Fahne. „Die Deutschen sind Hitler losgeworde­n. Wir schaffen das mit diesem Diktator auch“, sagt die 73-Jährige.
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FOTO: ULF MAUDER/DPA Stepan Latypow wird in seinem Wohnvierte­l von maskierten Polizisten weggetrage­n.

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