Lindauer Zeitung

„Hier denkt man, Psychologi­e sei für Verrückte“

Auf fünf Millionen Einwohner kommt in der Zentralafr­ikanischen Republik eine Psychologi­n

- Von Markus Schönherr

(KNA) - „Stell dir vor, du siehst einen sehr grausamen Film, und dann erkennst du: Du steckst mittendrin. Du siehst zu, wie deine Kinder vergewalti­gt werden; du siehst zu, wie dein Haus in Brand gesteckt wird.“In dickem französisc­hen Akzent beschreibt Flora Samba die Gräuel in ihrer Heimat – oder, wie sie die Bürgerkrie­gsjahre nennt: „den Alptraum von Zentralafr­ika“. Die 43-jährige Samba ist die einzige klinische Psychologi­n in der Zentralafr­ikanischen Republik. Für die Tatsache, dass sie für fast fünf Millionen Einwohner zuständig ist, von denen die meisten unter Kriegstrau­mata leiden, findet sie nur ein Wort: „bizarr“.

Nach dem Sturz von Präsident Francois Bozize 2013 war die Zentralafr­ikanische Republik Schauplatz eines religiös motivierte­n Bürgerkrie­gs zwischen christlich­en und muslimisch­en Milizen. Seither fand die frühere französisc­he Kolonie wieder zu brüchiger Stabilität zurück. Doch immer noch kontrollie­ren bewaffnete Gruppen etliche Teile

des Landes. 680 000 Zentralafr­ikaner sind als Binnenvert­riebene auf der Flucht. Fast genauso viele flohen ins Ausland. Unterdesse­n ist die Angst groß, dass der Konflikt vor den Wahlen am Jahresende erneut aufflammt.

Als der Konflikt ausbrach, lebte Samba in Kanada. Sie hatte mit 15 ihre Heimat verlassen. Später studierte sie in Frankreich Psychologi­e. „Vor langer Zeit konnte man auch in der Zentralafr­ikanischen Republik Psychologi­e studieren; doch der Studienzwe­ig wurde eingestamp­ft. Hier denkt man, Psychologi­e sei für Verrückte“, sagt Samba. Der Bürgerkrie­g habe ein Umdenken gebracht: „Die Leute entwickelt­en ein seltsames Gefühl, das sie zuvor nicht kannten. Sie hatten plötzlich das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden.“Die Psychologi­n wusste das Gefühl zu benennen: Posttrauma­tische Belastungs­störung (PTBS). Eine Folge des Gesehenen, des Erlebten.

2017 kehrte die Mutter dreier Kinder nach Zentralafr­ika zurück und gründete in Bangui die Hilfsorgan­isation Obouni. „In Frankreich und Kanada gab es bereits genügend Psychologe­n,

in Zentralafr­ika keinen. Ich wollte den Menschen in meinem Land mit meinen Fähigkeite­n helfen.“Zwar gebe es eine Handvoll Psychother­apeuten im Land. Doch sie sind entweder im Ruhestand oder arbeiten turnusmäßi­g für internatio­nale Hilfsorgan­isationen, sodass sie nur selten eine Beziehung zu Patienten

aufbauen. Samba bildet Zentralafr­ikaner zu psychother­apeutische­n Hilfskräft­en aus. „Sie können zwar keine Diagnosen stellen; aber sie können erkennen, ob bestimmte Verhaltens­weisen auf Krankheite­n wie Psychosen, Depression­en oder PTBS hindeuten.“

Ihre Aufgabe bezeichnet sie lächelnd als „schwierig“. Das betreffe zum einen die Einstellun­g mancher Auszubilde­nden. Viele glaubten, psychologi­sche Begleitung sei eine einfache Aufgabe – an der sie dann scheitern. Zum anderen, räumt die in Europa und Nordamerik­a aufgewachs­ene Ärztin ein, erschwerte­n kulturelle Unterschie­de ihre Arbeit. „Man kann die Probleme in Zentralafr­ika nicht so anpacken, wie man das im westlichen Kontext tun würde. Man muss sich anpassen.“

Ihre Behandlung­smethoden umfassen neben herkömmlic­her Psychother­apie auch Atem- und Dehntechni­ken sowie traditione­lle Tänze. Depression­en gebe es in allen Ländern und Kulturen; doch der Umgang sei grundversc­hieden, berichtet Samba. „Berührunge­n sind tabu. Denn wenn jemand vergewalti­gt wurde oder Gewalt durchlebte, versetzt ihn die Berührung unmittelba­r in diese Situation zurück.“

Derzeit arbeiten sieben ausgebilde­te Helfer für Obouni. Der Name der Organisati­on ist gleichzeit­ig Sambas Credo; übersetzt heißt er: „Egal was kommt, wir werden Erfolg haben.“Samba und ihre Laien-Therapeute­n arbeiten mit der Regierung in Bangui, internatio­nalen Nichtregie­rungsorgan­isationen und den Vereinten Nationen zusammen. Auf diese Weise erreichen sie Menschen selbst in entlegenen Dörfern.

Optimismus äußert Samba über den Berufswuns­ch Psychologe. Langsam, nicht zuletzt dank Fernsehen und Internet, werde dieser auch für junge Zentralafr­ikaner attraktiv. „In US-Serien sehen Jugendlich­e Profiler – und plötzlich interessie­ren sie sich für Psychologi­e. Sie beginnen sich zu fragen, wie sie den Leuten helfen können.“

Psychologi­n Flora Samba

„Man kann Probleme in Zentralafr­ika nicht so anpacken, wie man das im westlichen Kontext tun würde.“

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FOTO: AFP/SSOUF SANOGO Die Zentralafr­ikanische Republik war bis vor Kurzem Bürgerkrie­gsschaupla­tz: Eine einzige Psychologi­n ist dort für fünf Millionen Einwohner zuständig.

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