Lindauer Zeitung

Erste Welle der Spanischen Grippe hat Lindau fast verschont

Im Stadtarchi­v gibt es Hinweise zum Kampf der Lindauer gegen die Pandemie vor gut hundert Jahren

- Von Heiner Stauder

- Die Corona-Pandemie hat die Frage aufgeworfe­n, ob die Welt schon einmal ähnliches erlebt hat. Medizinhis­toriker verweisen auf die „Spanische Grippe“, die vor gut hundert Jahren, zwischen 1918 und 1920, grassierte – auch hier in Lindau – namentlich in der Altstadt und in den damals noch selbständi­gen Gemeinden Aeschach, Hoyren und Reutin. Entspreche­nde Hinweise finden sich im Stadtarchi­v. Dessen Leiter Heiner Stauder ist dem nachgegang­en und hat die Ereignisse für die LZ zusammenge­fasst.

Das erste Auftreten der „Spanischen Grippe“fiel in die Endphase des Ersten Weltkriegs (1914-1918). Das war kein Zufall, denn während des Krieges war der globale (See-) Verkehr so intensiv wie nie zuvor. Der Herd der Pandemie ist bis heute ungeklärt. Sicher ist, dass Soldaten der verbündete­n amerikanis­chen, englischen und französisc­hen Armeen den Erreger verbreitet haben. Von diesen gerieten etliche in deutsche Gefangensc­haft, womit die Pandemie die Front übersprang. Ende Mai 1918 erreichte ihre erste Welle Deutschlan­d.

Nicht nur kriegsteil­nehmende, sondern auch neutrale Staaten waren betroffen. An erster Stelle ist hier Spanien zu nennen. Da dort die Presse keiner Zensur unterlag und sich auch der König infizierte, berichtete die spanische Presse sehr intensiv über die neue Krankheit. Außerhalb Spaniens entwickelt­e sich daher die irrige Annahme, sie habe hier ihren Ursprung, weshalb sie den Namen „Spanische Grippe“erhielt.

Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg geriet die „Spanische Grippe“in der kollektive­n Erinnerung – zumindest Europas – fast in Vergessenh­eit, obwohl sie wesentlich mehr Opfer forderte. Von rund 500 Millionen Infizierte­n, etwa ein Drittel der damaligen Weltbevölk­erung, starben je nach Schätzung zwischen 30 und 100 Millionen Menschen, während in Gefolge des Ersten Weltkriegs „nur“rund 18,5 Millionen Menschen ums Leben kamen. Da es sich bei ihnen zum überwiegen­den Teil um Europäer handelte, war das Verhältnis zwischen Grippe- und Kriegstote­n auf dem Alten Kontinent eine andere. Das mag ein Grund dafür sein, dass man sich hier – abgesehen von Fachkreise­n – bis in die Gegenwart kaum an die „Spanische Grippe“erinnert hat. Bereits das Augenmerk der Zeitgenoss­en war vor allem auf die militärisc­hen Ereignisse am Ende des Ersten Weltkriege­s gerichtet und auf die politische­n Umwälzunge­n, die sie – namentlich in Deutschlan­d und Österreich – nach sich zogen. Offenbar war für viele die Grippe nur eine Begleiters­cheinung des Krieges, nur ein zusätzlich­es Menetekel einer extrem schwierige­n Zeit, die von

Niederlage, Revolution, Hunger, Brennstoff­mangel und anderen Einschränk­ungen geprägt war.

Die Quellenlag­e im Stadtarchi­v Lindau spiegelt dies wider. Während der aktuellen Corona-Pandemie dominierte Covid-19 über Wochen die Berichters­tattung der Medien. Die Zeitungen waren voll davon. Anders 1918: Das „Lindauer Tagblatt“(LT) berichtete nur sporadisch über die „Spanische Grippe“. Die entspreche­nden Beiträge – der erste erschien am 3. Juni 1918 – schafften es nie auf die Titelseite und beschränkt­en sich meist auf wenige Zeilen.

Die Stadtverwa­ltung Lindau nahm die Pandemie noch viel später offiziell zur Kenntnis. Der Aktenband „Bekämpfung der Grippe“wurde erst Mitte Oktober 1918 angelegt und blieb von geringem Umfang, wobei man allerdings berücksich­tigen muss, dass das öffentlich­e Gesundheit­swesen in die Zuständigk­eit des Bezirksamt­s (dem Vorgänger des Landratsam­ts) fiel. Immerhin war Bürgermeis­ter Heinrich Schützinge­r in seinen Wochenberi­chten an die Regierung in Augsburg verpflicht­et, auch auf den Gesundheit­szustand in seiner Stadt (die damals nur aus der Insel bestand) einzugehen. Die entspreche­nden Mitteilung­en waren jedoch immer deutlich kürzer als diejenigen zur öffentlich­en Sicherheit, zur Ernährung, zum Arbeits- und Wohnungsma­rkt oder zur Versorgung mit Kohle. Anders als heute Covid-19 war die „Spanische Grippe“nicht meldepflic­htig. Das ist ein wesentlich­er Grund, warum – zumindest nach dem jetzigen Kenntnisst­and – keine Angaben über die Zahl ihrer Opfer in Lindau gemacht werden können. Dass es sie aber gab – und vermutlich nicht zu wenig, das werden wir im Folgenden hören.

Wie bereits erwähnt, erschien die erste Meldung über die „Epidemie in Spanien“im LT am 3. Juni 1918. Sie gab Informatio­nen der spanischen

Die Corona-Pandemie hat die Frage aufgeworfe­n, ob die Welt schon einmal ähnliches erlebt hat. Medizinhis­toriker verweisen auf die „Spanische Grippe“, die vor gut hundert Jahren, zwischen 1918 und 1920, grassierte und auch Lindau nicht verschonte. Hinweise dazu finden sich im Stadtarchi­v, darunter eine Bekanntmac­hung mit „Betreff: Die Grippe“der Stadtverwa­ltung Lindau vom 23. Oktober

Botschaft in Berlin weiter. Danach stellte sich die Epidemie als Grippe dar – „begleitet von plötzlich recht hohem Fieber“. Dieses dauere drei bis vier Tage an, worauf es plötzlich wieder verschwind­e und schnell Genesung eintrete. „Die Krankheit ist also ganz gefahrlos. Es ist bisher kein Todesfall, nicht einmal ein Fall schwerer Komplikati­onen zu verzeichne­n. Nur ist diese Grippe sehr ansteckend und leicht übertragba­r, daher die große Anzahl von Erkrankung­en.“Sie wurde am nächsten Tag auf über 100 000 Personen allein im Raum Madrid beziffert, die sich innerhalb der letzten 14 Tage angesteckt hätten. Damit wäre mehr als jeder zehnte Einwohner der spanischen Hauptstadt betroffen. Über Madrid hinaus habe die Epidemie auf die meisten großen Provinzstä­dte und auf die spanische Garnison in Marokko übergegrif­fen. In den dicht bevölkerte­n Regionen seien die öffentlich­en Dienste ernstlich in Frage gestellt.

Die Nachrichte­nagentur Reuters vermittelt­e direkt aus Madrid ein weniger harmloses Bild: Allein am 2. Juni seien 111 Menschen an der Epidemie gestorben, in den Tagen davor rund 700. „In allen Fällen mit tödlichem Ausgang handelt es sich um Komplikati­onen. Gesunde Personen

1918. Sie wurde einen Tag später, am 24. Oktober 1918, also heute vor genau 102 Jahren im „Lindauer Tagblatt“veröffentl­icht. Mit ihr reagierte die Stadt Lindau auf die zweite Welle der Pandemie. Zuerst berichtet Stadtarchi­v Heiner Stauder in der LZ heute über die erste Welle, die noch einigermaß­en glimpflich verlief. In der kommenden Woche folgt ein Bericht über die zweite Welle. (lz)

genesen in vier bis fünf Tagen: Für Menschen mit schwacher Gesundheit, vor allem aber für Kehlkopfun­d Lungenleid­ende, ist die Krankheit gefährlich“, berichtet das LT am 4. Juni 1918.

Die nächsten Meldungen des LT zur Epidemie erschienen knapp einen Monat später, zwischen dem 3. und 6. Juli 1918. Jetzt aber ging es nicht mehr um Krankheits­fälle in weit entfernten Regionen Südwesteur­opas und Nordafrika­s, jetzt ging es um solche in West- und Süddeutsch­land, einschließ­lich Lindaus selbst. Die ersten müssen hier noch im Juni aufgetrete­n sein – wir werden darauf noch einmal zurückkomm­en –, denn am 3. Juli schreibt das LT: „Die ‚Spanische Krankheit‘ nimmt in unserer Stadt an Ausdehnung zu. Es werden immer mehr Fälle bekannt, daß Personen plötzlich durch Fieberersc­heinungen ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben können. Besonders in Aufenthalt­sstätten von einer größeren Personenza­hl verbreitet sich die Influenza rasch. So liegen zum Beispiel im Maria-Marthastif­t (damals eine Haushaltss­chule für weibliche Jugendlich­e,) bei 40 Zöglinge im Bette.“

Das LT war offenbar selbst betroffen, denn es bat seine Leser „um gütige Nachsicht“, weil sich „durch plötzliche Erkrankung mehrerer Arbeiter unseres technische­s Betriebes … die Herstellun­g der Zeitung etwas verzögert“habe.

Wie hoch in Lindau und Umgebung der Anteil der Erkrankten unter der Gesamtbevö­lkerung war, konnte bisher noch nicht ermittelt werden. Lag er bei bis zu einem Drittel, wie das LT am 4. Juli für einige Städte in Westdeutsc­hland wie Karlsruhe, Mannheim und andere sowie das Saargebiet meldete? Oder war eher jeder Zehnte betroffen, wie das LT am 3. Juli für München angab? Er würde in etwa demjenigen in Madrid entspreche­n. Ähnlich wie in Spanien gefährdete die Pandemie öffentlich­e Dienstleis­tungen. In München – so das LT vom 3. und 5. Juli – herrschten hohe Krankenstä­nde bei der Polizei, der Post, dem Fernmelded­ienst und nicht zuletzt bei der Straßenbah­n, die ihren Betrieb verringern musste. Weiterhin waren Kasernen, Großbetrie­be und nicht zuletzt Schulen betroffen, wo der Anteil der erkrankten Schüler vorsichtig auf fünf bis zehn Prozent geschätzt wurde. Ähnliches berichtete das LT aus anderen Städten wie Ulm, Leutkirch, Friedrichs­hafen und Konstanz, des Weiteren aus der Schweiz, die – wie wir heute wissen – besonders stark von der „Spanischen Grippe“betroffen war. „In Oberriet im Kanton St. Gallen“– so das LT am 6. Juli – „herrscht seit acht Tagen bei Groß und Klein eine Epidemie, ähnlich wie Influenza, so daß in Fabrikbetr­ieben viele aussetzen mußten und die Lehrer nicht einmal mehr als die Hälfte der Schüler haben. Auch das hiesige Militär soll befallen sein.“

Die Ausbreitun­g der „Spanischen Krankheit“werde naturgemäß durch das regenreich­e Wetter begünstigt. Sie sei aber „durchaus harmlos, wenn man vorsichtig“sei, „sofort nach Auftreten der Krankheits­symptome das Bett“aufsuche „und dort drei bis vier Tage nach Vorschrift des

Arztes“aushalte. Letztlich verlaufe sie „wie eine leichte Influenza“.

Nicht jedoch bei dem Stationsau­fseher Otto Schurr in Hoyren. „Von seinem Urlaube zurückgeke­hrt“, meldete das LT am 9. Juli 1918, befiel den 33-jährigen „‘die spanische Krankheit‘, zu welcher sich noch eine hartnäckig­e Lungen- und Rippenfell­entzündung gesellten, was schließlic­h die Widerstand­skraft des sonst gesunden Mannes brach und ihn nach fünf Tagen“am Abend des 8. Juli „jäh dahinrafft­e.“„Unerwartet schnell“hieß es in der Todesanzei­ge Schurrs, der wohl der erste aus dem heutigen Lindauer Stadtgebie­t war, der an der Spanischen Grippe starb – zumindest unter der Zivilbevöl­kerung. Denn während das LT anscheinen­d über die Ausbreitun­g der Epidemie unter der Zivilbevöl­kerung recht frei berichten konnte, scheint dies hinsichtli­ch des Militärs nicht der Fall gewesen zu sein. Hier wurde offensicht­lich Zensur geübt. Dieser Verdacht stellt sich bei der Lektüre der drei Todesanzei­gen ein, die für verstorben­e Soldaten am 8. Juli 1918 erschienen waren, also einen Tag vor derjenigen Schurrs. Hinter der „tückischen Krankheit“, an der der Torpedo-Obermatros­e Josef Raiber während seines Urlaubs in der elterliche­n Wohnung in Aeschach-Holben verstorben war, könnte sich durchaus die „Spanische Grippe“verbergen. Noch begründete­r ist der Verdacht bei dem Knecht Albert Steinle. Auch er starb am 8. Juli – ebenfalls in Aeschach und zwar „nach schwerem Leiden, das er sich im Felde zugezogen, infolge einer hinzugekom­menen Lungenentz­ündung“. In der dritten Todesanzei­ge vom 8. Juli lesen wir, dass der 21-jährige „Jüngling“Ludwig Heitinger aus Unterreitn­au am 6. Juli „nach kurzer Krankheit … im 21. Lebensjahr­e verschiede­n“war – allerdings nicht in Lindau, sondern in einem Lazarett in Landsberg am Lech.

Der erste Todesfall in Lindau aber war wahrschein­lich keiner der Genannten, sondern der 42-jährige Hauptmann Richard Hamm aus Reutin. Er war, so die Todesanzei­ge vom 17. Juni, am 15 Juni 1918 während eine Heimaturla­ubs „einer heimtückis­chen Lungenentz­ündung zum Opfer gefallen.“Er war also mehr als drei Wochen vor Schurr, Raiber und Steinle verstorben – zu einem Zeitpunkt, als – zumindest im LT – weder die Rede davon gewesen war, dass die „Spanische Grippe“durchaus lebensbedr­ohlich verlaufen konnte, noch dass ihre erste Welle Lindau bereits erreicht hatte.

Heiner Stauder wird auch über die zweite Welle der Spanischen Grippe berichten, deren Folgen für die Menschen in Lindau sehr viel verheerend­er war. Der Bericht folgt in der kommenden Woche.

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FOTO: DPA/NATIONAL MUSEUM OF HEALTH AND MEDICINE Viele Millionen Menschen in aller Welt erkrankten zwischen 1918 und 1920 an der Spanischen Grippe. Dieses Bild zeigt ein Notfallkra­nkenhaus des US-Militär in Kansas.
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FOTOS: JÜRGEN ILLIGASCH/STADTARCHI­V LINDAU Ein erster Hotspot der „Spanischen Grippe“in Lindau: Das Maria-Martha-Stift, das damals kein Seniorenhe­im war, sondern eine Fortbildun­gs- und Haushaltsc­hule für weibliche Jugendlich­e. Rund 40 von ihnen lagen Anfang Juli 1918 mit Fieber im Bett.
 ??  ?? Die Bekanntmac­hung aus dem Oktober 1918 macht deutlich, dass die Symptome der von Covid-19 ähnelten.
Die Bekanntmac­hung aus dem Oktober 1918 macht deutlich, dass die Symptome der von Covid-19 ähnelten.

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