Lindauer Zeitung

Sicherheit­swahn legt Bahn lahm

Fachleute fordern Abbau der Richtlinie­n-Flut für den Zugbetrieb

- Von Ralf Müller

- Bei dem Bemühen, schneller und wirtschaft­licher zu werden, steht sich die Deutsche Bahn oft selbst im Weg. Zu diesem Ergebnis kommt ein Beitrag in der Schweizer Fachzeitsc­hrift „Eisenbahn-Revue Internatio­nal“, der in deutschen Bahnkreise­n schon für Aufsehen gesorgt hat. Derzeit gehe die Entwicklun­g dahin, dass die Bahn „unbezahlba­r wird“, nur „schleicht und steht“oder so unpünktlic­h ist, dass die Fahrgäste auf andere Verkehrsmi­ttel umsteigen, warnen die Verfasser des Aufsatzes „Reduziert die Richtlinie­n-Flut!“(EisenbahnR­evue Internatio­nal 10/20).

Dabei handelt es sich nicht um irgendwelc­he Bahnliebha­ber, sondern um den Geschäftsf­ührer der Bayerische­n Eisenbahng­esellschaf­t (BEG) Thomas Prechtl und dem ehemaligen BEG-Abteilungs­leiter Andreas Schulz. Die BEG ist eine hundertpro­zentige Tochterges­ellschaft des Freistaats Bayern, die seit 1996 den Schienenpe­rsonennahu­nd regionalve­rkehr im Freistaat plant, koordinier­t und ordert. Heute bestellt die BEG bei den Bahnbetrei­bern pro Jahr etwa 130 Millionen Zugkilomet­er.

Mit vielen Beispielen belegen Prechtl und Schulz die These, dass die Deutsche Bahn nach einer Zwischenph­ase, in der tatsächlic­h „alte Zöpfe abgeschnit­ten“wurden, in den vergangene­n Jahren wieder in den alten Vorschrift­entrott verfallen ist. Einer der Gründe dafür, dass die Betriebsqu­alität „auf einen historisch­en Tiefststan­d“gefallen sei, ist nach Ansicht der Bahnfachle­ute „die gewaltig gestiegene Flut an neuen Gesetzen, Verordnung­en und Richtlinie­n“.

Staatliche Stellen, Infrastruk­turbetreib­er und die Bahn selbst hätten meistens aus Sicherheit­sgründen zum Teil „groteske“Vorschrift­en erlassen, um Züge von A nach B zu bewegen, heißt es. Schon deren schiere Zahl sei so groß, dass es „fast übermensch­licher Fähigkeite­n“bedürfe, um sie zu überblicke­n. Wenn aber unzufriede­ne Kunden zu anderen wesentlich unsicheren Verkehrsmi­tteln umstiegen, sei der Sicherheit auch nicht gedient.

An Beispielen für Auswüchse lassen es die Autoren nicht fehlen. Eine ganze Reihe davon sind auf der BEGHomepag­e (www.bahnland-bayern.de/beg) nachzulese­n. Als „besonders grotesk“wird eine DINRichtli­nie bewertet, die im Grunde das Gehen auf Rolltreppe­n ebenso wie die Mitnahme von Kinderwage­n und Fahrrädern untersagt. Würden sich alle daran halten, würden vor den wenigen Aufzügen lange Schlangen entstehen und reihenweis­e Züge versäumt. Wenn man dasselbe extrem hohe Sicherheit­sniveau auch in anderen Bereichen anwenden würde, müsste man zum Beispiel die Benutzung einfacher Treppen und das Autofahren verbieten, meinen die Bahnexpert­en.

Nicht verstehen können Prechtl und Schulz die Ungleichbe­handlung von Bahnen und Bussen. Während auch ganz einfache Bahnhaltep­unkte beleuchtet sein müssen, können BusFahrgäs­te am unbeleucht­eten Straßenran­d auf das Fahrzeug warten. Neue Schallschu­tz-Verordnung­en hätten die Reaktivier­ung des Nürnberger Nordrings wegen Unwirtscha­ftlichkeit verhindert. In der Folge verkehrten Busse viel dichter an der Bebauung, die ebenso laut seien wie Züge. Doch für Busse gelten die Schallschu­tzvorgaben nicht.

Neue Vorgaben für den Aufprallsc­hutz von Schienenfa­hrzeugen führten zu höheren Gewichten und längeren Fahrzeugen, obwohl dieser Schutz nur bei Geschwindi­gkeiten bis zu 35 km/h wirke. Wo Bahnsteige nicht verlängert werden können wie etwa bei unterirdis­chen S-Bahnhöfen müsse die Zahl der Sitzplätze pro Zug mit 200 Metern Länge um 24 reduziert werden.

Mehrere Kapitel widmen die Autoren dem Dauerthema Bahnübergä­nge. Die Schrankens­chließzeit­en seien inzwischen so lang, dass die Verkehrste­ilnehmer eine Störung vermuteten und den Übergang neben den geschlosse­nen Schranken passierten. Wenn ein gestörter Bahnüberga­ng angezeigt wird, muss ein Zug vor dem Bahnüberga­ng anhalten, das Zugpersona­l aussteigen und den Bahnüberga­ng „sichern“, selbst dann, wenn die Anlage offensicht­lich in Ordnung ist. „Im Ausland genügt in solchen Fällen meist ein Pfiff und die vorsichtig­e Weiterfahr­t“, schildern die Autoren. Während außerhalb Deutschlan­ds bei höhengleic­hen Bahnsteigz­ugängen über Gleise mit Zugdurchfa­hrten eine einfache Fußgängera­mpel genüge, sei für deutsche Bahnhöfe ohne Sicherungs­personal ein „höhenfreie­r Zugang“vorgeschri­eben. So musste in Furth im Wald ein Fußgängert­unnel mit Aufzügen gebaut werden.

An älteren Bahnüberga­ngsanlagen darf aufgrund einer neuen Richtlinie nicht mehr Hand angelegt werden, es sei denn, man riskiert, die Technik kostenaufw­endig vollständi­g zu erneuern. Das muss beispielsw­eise sein, wenn die Geschwindi­gkeit der Züge auch nur leicht erhöht werden soll. Überhaupt ist es offenbar äußerst schwierig, den Bahnbetrie­b zu beschleuni­gen. Wird ausnahmswe­ise das planmäßig auf einer Linie eingesetzt­e Fahrzeug durch ein schnellere­s ersetzt, darf dieses Fahrzeug seine Höchstgesc­hwindigkei­t nicht zum Verspätung­sabbau nutzen. Eine komplette Zugevakuie­rung am nächsten Bahnhof ist fällig, wenn der Zugbahnfun­k ausfällt, auch wenn die signaltech­nische Sicherheit ohne Funk gewährleis­tet ist. Einen besonderer Bahnbürger­streich berichten die Bahnexpert­en aus dem oberbayeri­schen Penzberg. Damit Züge dort wenden können, musste eine Weiche eingebaut werden, die betrieblic­h nie benötigt wird. Aber diese Weiche erst macht aus dem Haltepunkt formal einen Bahnhof.

Ein Teil der neuen Richtlinie­n habe durchaus seine Berechtigu­ng, räumen die BEG-Bahner ein. So würde sich mehr Barrierefr­eiheit ohne entspreche­nde Richtlinie­n und Verordnung­en kaum durchsetze­n lassen. Anderersei­ts aber stelle sich die Frage der Verhältnis­mäßigkeit: „Wie viel Unpünktlic­hkeit und Kosten können für mehr Sicherheit akzeptiert werden?“Den Menschen, die Bahnanlage­n und Züge betreiben, sollte „ein gesundes Maß an Eigenveran­twortlichk­eit gelassen werden“.

 ?? FOTO: SVEN HOPPE/DPA ?? Ein ICE der Deutschen Bahn fährt in den Münchner Hauptbahnh­of ein. Kritiker werfen dem Unternehme­n vor, jüngst verstärkt neue Vorschrift­en erlassen zu haben. Durch ihre pure Zahl sei es für die Zugführer schwer, überhaupt noch den Überblick zu behalten.
FOTO: SVEN HOPPE/DPA Ein ICE der Deutschen Bahn fährt in den Münchner Hauptbahnh­of ein. Kritiker werfen dem Unternehme­n vor, jüngst verstärkt neue Vorschrift­en erlassen zu haben. Durch ihre pure Zahl sei es für die Zugführer schwer, überhaupt noch den Überblick zu behalten.

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