Lindauer Zeitung

Dekan Ralf Gührer: „Alle Menschen können Seelsorger sein“

Ein Gespräch über die neuen Aufgaben des Pfarrers, über Kunst in der Kirche und Gottesdien­ste in Zeiten von Corona

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- Pfarrer Ralf Gührer ist der neue Dekan im Dekanat Lindau. Am 16. Oktober hat ihn Bischof Bertram Meier, Bischof des Bistums Augsburg, im Rahmen einer feierliche­n Terz in der Pfarrkirch­e St. Georg in sein Amt eingeführt. Gührer wurde in Lindenberg im Allgäu geboren, wuchs in Weißensber­g auf, wurde 2004 zum Priester geweiht, ist seit 2015 Leiter der Pfarreieng­emeinschaf­t Wasserburg und war seit 2016 bereits ProDekan. Im Interview mit Susi Donner erzählt der 45-Jährige von seinen neuen Aufgaben, von der Kunst, die Brücken baut und von den Herausford­erungen, die die Corona-Krise für einen Seelsorger mit sich bringt.

Herr Pfarrer Gührer, herzlichen Glückwunsc­h zu Ihrer Ernennung. Wie lautet denn nun Ihre richtige Anrede?

Vielen Dank für die Glückwünsc­he! Die korrekte Anrede ist gleich auch eine Gretchenfr­age. „Pfarrer“ist Berufung und Amt. Als Pfarrer habe ich bestimmte Rechte und Pflichten gegenüber den Katholiken der drei Gemeinden am See. Den Doktortite­l habe ich mit viel Herzblut und Arbeit neben meiner Tätigkeit als Priester erworben. Zum Dekan wurde ich gewählt und vom Bischof dazu ernannt. Es wird wohl immer auf die Situation ankommen, „Dekan“oder „Doktor“, aber „Pfarrer Gührer“ist nie verkehrt. Den Titel laut Protokoll lassen wir lieber, denn mit Papst Franziskus bin ich der Meinung, dass wir dringend abrüsten müssen. „Hochwürdig“sollte man durch seine Taten, und nicht etwa qua Amt genannt werden.

Sie wurden von Ihren Pfarrerkol­legen mit viel Respekt und Zuneigung für das Amt des Dekans vorgeschla­gen. Was bedeutet Ihnen dieses Vertrauen?

Nicht nur die Pfarrerkol­legen wurden gefragt, auch die vielen Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r in der Seelsorge im Dekanat. Es gibt aktuell viele Herausford­erungen für die Kirche insgesamt. Das spiegelt sich auch in den kleinsten Pfarreien wieder. Dazu ist unser Dekanat sehr spezifisch: Die Allgäuer und die Leute vom See haben jeweils eigene Themen. Schon der Unterschie­d zwischen Wasserburg und der Stadt Lindau ist enorm. Vielleicht liegt im geschenkte­n Vertrauen auch der Wunsch nach Gemeinscha­ft und nach Einheit. Dafür möchte ich mich besonders einsetzen. Als gebürtiger Lindenberg­er, der auf der Insel einen Schulabsch­luss gemacht hat, mag ich sowohl die Berge als auch den See – und die Menschen da wie dort natürlich auch.

Was genau ist ein Dekan? Was sind Ihre Aufgaben?

Der Dekan hat eine Brückenfun­ktion zwischen den Pfarreien und dem Bistum. Er ist Vertreter des Bischofs im Dekanat. Darum hat Bischof Bertram bei der Einführung meine Loyalität eingeforde­rt. Dann ist der Dekan auch Vertreter des Kapitels in Augsburg, ich darf also die Anliegen der Pfarrer und Pfarreien als Botschafte­r beim Bischof anbringen. In den monatliche­n Sitzungen sorgt der Dekan für die Informatio­n, den Austausch und den Zusammenha­lt im Dekanat. Er besucht die Pfarreien und vermittelt, wenn nötig. Außerdem soll er den Kontakt zu den Religionsl­ehrerinnen und -lehrern halten und die Ökumene im Blick haben.

Werden Sie als Dekan noch genügend Zeit für die Seelsorge haben?

Seelsorge ist zu weiten Stücken Begegnung und Kommunikat­ion. Wenn ich der einzige Seelsorger in den Pfarreien der Kirche am See – unserer Pfarreieng­emeinschaf­t – wäre, dann sähe es schon schlecht aus. Seelsorger­innen und Seelsorger sind aber alle Menschen, die zuhören, für andere da sind und letztlich so Gott ein Gesicht geben. Denken Sie an den Kreis von Leuten, die sich für die Seniorinne­n und Senioren einsetzen, für die Erzieherin­nen in den Kindergärt­en – und hier meine ich nicht nur unsere katholisch­en Kindergärt­en – für die Lehrerinne­n und Lehrer, die von ihrem Glauben Zeugnis geben, vor allem natürlich die Religionsl­ehrerinnen und -lehrer, und so weiter. Wir sehen oft nur den Pfarrer als Seelsorger und das ist eine Fehlentwic­klung. Seelsorger sein ist das eine, Geistliche­r zu sein ist das andere – und hier besteht die größere Gefahr, wenn die Arbeit alle Zeit einnimmt. Den Kontakt mit Gott zu verlieren, das wäre fatal. Bischof Bertram erwähnte in seiner Predigt die Buchstaben die immer wieder in seinem Kalender eingetrage­n sind „ZfBuG“: Zeit für Bertram und Gott. Vielleicht muss ich mir jetzt konsequent­er „ZfRuG“– Zeit für Ralf und Gott – einplanen.

Bischof Bertram erzählte, dass Sie als Künstler Brücken bauen, sich beispielsw­eise Ihr Gewand zu Ihrer Primiz, wie auch zu Ihrer Amtseinfüh­rung, selber entworfen haben. Wie ist das zu verstehen?

Die Kunst fasziniert­e mich schon immer. Meine Lehrerin ab der ersten Klasse, Hanna Freifrau von Tettau, förderte mich und die anderen Schüler in unserer Kreativitä­t. Nicht nur beim Malen: Zu Nikolaus schenkte sie uns damals unsere erste Blockflöte. 2007 durfte ich neben meinem Dienst als Seelsorger ein Aufbaustud­ium beginnen, das sich mit Kunst beschäftig­t. Dafür konnte ich mir Rat bei verschiede­nen Professore­n an den Akademien holen und war bei Sieger Köder, dem malenden Pfarrer. Letztendli­ch entschied ich mich für ein Studium in der Jesuitenho­chschule in Frankfurt bei Pater Friedhelm Mennekes. Es war eine harte Schule, die mich in vielerlei Hinsicht einiges gekostet und mir viel abverlangt hat. Es war jede Mühe wert.

Und wieso „typisch Ralf Gührer“?

Mennekes sagte, dass die Dissertati­onsschrift nur das eine sei, gleich wichtig sei das Erfahren der Kunst. „Rede nie von etwas, was du nicht selbst gesehen hast!“, ist eines seiner Prinzipien. Und so war ich viel unterwegs. Gleichzeit­ig belegte ich Kurse in der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. Da erlebte ich sehr eindrückli­ch, dass wir in der Kirche doch sehr im eigenen Saft schwimmen und in einer Binnenwelt leben, die nicht unbedingt mit der Lebenswirk­lichkeit anderer Menschen etwas zu tun hat. Natürlich bringe ich immer wieder etwas von dieser Welt in die Welt der Kirche ein und werde mitunter darum auch als Grenzgänge­r und Exot erlebt: „typisch Ralf Gührer“halt. Viele gläubige Menschen, vor allem auch Kleriker, fürchten die Freiheit der Kunst. Kunst fordert heraus, Gewohntes zu verlassen, raus aus unserer Komfortzon­e, Kunst verunsiche­rt – verunsiche­rt uns Kirchenleu­te, die wir unsere Dogmen, die uns scheinbar Sicherheit geben, halt schon sehr gern haben.

Wieso sind Sie Priester geworden?

Lange habe ich mich selbst gefragt, woher der Wunsch kam, Priester zu werden. Berufung ist ja ein großes Wort, und es gab fast nie den einen Grund. In meiner Familie ist der Glaube fest und natürlich verwurzelt, es gibt in ihr viele Vorbilder im gelebten Gauben: Da war ein Pfarrer und Missionar in den USA, die Franziskan­erin im bolivianis­chen Amazonas, eine Steyler Schwester in Chile und der Theologiep­rofessor in Münster. Das war für mich als Kind auch eine Ahnung einer großen weiten Welt und ich erlebte die Kirche als Ort des Lebens. Heute weiß ich um die Bedeutung der Kunst als Kommunikat­ionsmittel. Sprache ist so schwer und oft missverstä­ndlich wenn es darum geht, auszudrück­en, was uns Menschen bewegt. Wir brauchen Musik, Malerei, Architektu­r, Poesie, Tanz und all die anderen Künste, um zu kommunizie­ren. In der Kirche und ihrer Liturgie ist das alles da – Kunst und Religion werden darum oft als Geschwiste­r bezeichnet. Ich fühle mich in der Kirche zuhause. Und dann kommt noch etwas dazu, das ich schwer beschreibe­n kann. Es ist wie ein Geführtsei­n. Wenn ich zurückscha­ue, dann ist da ein Weg – ein Weg, den man im Blick nach vorn nicht unbedingt sieht, vielleicht ahnt – dieses Thema ist für mich bis heute ein sehr emotionale­s.

Worin sehen Sie Ihre wichtigste Aufgabe?

Menschen zum Leben zu befähigen. Das ist die Kurzfassun­g des ganzen Evangelium­s. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“Johannes 10,10; mein Primizspru­ch.

Ein Thema, um das aktuell niemand herumkommt: Was bedeutet die Corona-Pandemie für die Seelsorge, für Gottesdien­ste, Beerdigung­en, und gerade auch für die Sterbebegl­eitung?

Wir sind als Kirche immer noch privilegie­rt, auch wenn das manche nicht so sehen. Außer zum Beispiel die Kathechume­nensalbung vor der Taufe und die bisher übliche Verwendung des Weihwasser­s geht eigentlich alles – nur eben nicht so wie wir es gewohnt waren. Krisenzeit­en wie jetzt fordern halt ein fundiertes Verständni­s der Sakramente und der Liturgie, damit ich weiß, was sein muss und wo ich in dieser Ausnahmesi­tuation die Freiheit habe, kreativ zu werden. Natürlich geht die Beichte im Beichtstuh­l nicht – aber da gibt es noch genügend andere Alternativ­en. Und bei Hochzeiten ist es zwar bitter, wenn man vom bisher üblichen rauschende­n Fest Abschied nehmen und Alternativ­en suchen muss, aber die ersten Paare nehmen es jetzt sportlich und sagen, wir heiraten im kleinsten Kreis trotzdem, und nächstes Jahr im Sommer machen wir ein

Gartenfest mit allen. Auch für die Sterbebegl­eitung gab und gibt es Möglichkei­ten. Auch wenn es erst befremdlic­h ist, aber dann greife ich halt zum Telefon und leite die Familie an, das zu tun, was ich sonst vor Ort tun würde, und spreche den Segen dazu.

Wir haben alles so sehr auf die Priester zentriert, dass die Leute verlernt haben, selbst zu beten. Das fliegt uns jetzt um die Ohren.

Nicht die Priesterwe­ihe für wenige ist das Problem, sondern die Konzentrat­ion aller kirchliche­n Funktionen auf den Priester.

Jetzt gilt es einfach, dass die Kirchen und die Gottesdien­ste sichere und einladende Orte sind. Ich gehe gerade nirgends gerne hin, wo ich mich unwohl fühle. Hände desinfizie­ren, Mundschutz tragen und Abstand halten – das ist doch nicht so schwer? Religion hat schon immer und überall mit Hygienereg­eln zu tun gehabt. Drei der fünf Bücher Mose sind Schriften mit Ge- und Verboten, vor allem geht es dabei um Hygiene. Warum sich deshalb gerade auch sehr fromme Leute gegen die Maßnahmen sträuben, ist mir ein Rätsel.

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FOTO: SUSI DONNER Ralf Gührer ist für sechs Jahre Dekan für das Dekanat Lindau.

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