Die heile Welt der Vorstädte
Die Frauen in den Vororten verhalfen Trump 2016 zum Sieg – Jetzt scheinen sie auf Distanz zu ihm zu gehen und könnten bei der Wahl das Zünglein an der Waage sein
- Laurel Birch Kilgore gehört zu den beneidenswerten Menschen, die auch im größten Trubel die Ruhe bewahren. In der Geschäftsstelle der Demokraten in Raleigh geht es zu wie in einem Bienenstock. Praktisch im Minutentakt fahren Anhänger der Partei vor, um „yard signs“abzuholen, Reklameschilder aus Plastik, die dem Regen standhalten und die man an dünnen Eisenstangen im Boden verankert, im Vorgarten, am Straßenrand, auf Grünflächen. Seit 15. Oktober wird abgestimmt in North Carolina. Wer nicht bis zum 3. November warten will oder der Briefwahl angesichts der von Donald Trump geschürten Verunsicherung nicht traut, kann schon jetzt ein Wahllokal aufsuchen. Es wird ernst, man spürt es an der Hektik, die in der Parteibaracke herrscht. Laurel Birch Kilgore scheint das alles nichts auszumachen, sie analysiert die Lage mit einer Gelassenheit, als wäre sie eine neutrale Beobachterin.
„Zwei Drittel der Stimmen für Joe Biden sind realistisch“, prophezeit sie. Das wäre deutlich mehr als die 57 Prozent, die Hillary Clinton 2016 im Wake County bekam, in dem Kreis, in dem Raleigh liegt. Woher sie den Optimismus nimmt? „Damals gab es viele Frauen, die sagten, die Sache ist doch gelaufen gegen Trump, warum soll ich noch wählen gehen. Diesmal kenne ich keine, die das so sieht.“Kilgore ist Anthropologin, sie hat in Malawi, Sambia und Simbabwe geforscht, bevor sie nach Raleigh zog, wo sie Exekutivdirektorin des Ortsvereins der Demokraten wurde.
Die Gegend gehört zu den Boomregionen des Landes. Angesehene Universitäten, Hightech, dazu das sonnige Klima im Sun Belt der USA: Im Wake County hat sich die Einwohnerzahl seit 1990 mehr als verdoppelt, auf heute 1,1 Millionen. Leute mit Bildung, die in gepflegten Siedlungen nett wohnen möchten, mit guten Schulen für ihre Kinder – so charakterisiert Kilgore das Milieu, das auch sie anzog. Raleigh sei eine Stadt, die im Grunde aus einer Ansammlung von Vororten bestehe. Klassisches Suburbia, wenn man so wolle.
Suburbia, der Begriff gehört zu amerikanischen Wahlkämpfen wie die obligatorischen „yard signs“. In Suburbia, wo es überproportional viele Wähler gibt, die zwischen Demokraten und Republikanern hinund herschwanken, werden die Kämpfe ums Weiße Haus in aller Regel entschieden. Besonders gilt das für die Vororte der Swing States, zu denen North Carolina gehört. Als die Tötung des Afroamerikaners George
Floyd eine Protestwelle gegen Polizeigewalt ins Rollen brachte, sprach Trump von wütenden Randalierern, die bald auch Suburbia stürmen würden. Zudem, suggerierte er, würde ein Präsident Biden massenhaft Sozialwohnungen in den Vororten errichten lassen und den Bau von Einfamilienhäusern verbieten. Das Idyll wäre dann Geschichte. „Biden wird euer Wohnviertel und euren amerikanischen Traum zerstören“, twitterte er, an die „Hausfrauen in den Vororten“gewandt. „Vorstadtfrauen, habt mich bitte lieb!“, flehte er neulich auf einer Kundgebung, um in Anspielung auf seine Law-and-Order-Parolen hinzuzufügen: „Ich habe das verdammte Viertel gerettet, okay.“
In Cary sieht es nicht danach aus, als wäre die heile Welt in ihren Grundfesten bedroht. Cary, das ist Suburbia wie aus dem Ei gepellt. Briefkästen säumen die Bürgersteige, als wären sie an einer Schnur aufgefädelt, schwarze, halbrunde Kästen auf weißen Pfosten. Vor Garagentoren hängen Basketballkörbe. Weit und breit ist keine Polizeipatrouille zu sehen, die die Bürger Carys vor Unruhestiftern schützen müsste. Und Kathy Fowler rollt nur mit den Augen, wenn man sie auf Trumps düstere Warnungen anspricht. 2016 hat sie Gary Johnson gewählt, den Bewerber der Libertären, es war eine Art Flucht in die Nische. An Clinton missfiel ihr, wie sie freimütig erzählt, die belehrende Art, an Trump störte sie dessen Selbstverliebtheit. Die Mittvierzigerin hat einen pflegebedürftigen Sohn, mit Egomanen weiß sie nichts anzufangen. Wie Trump über die Pandemie rede, das lasse sie an einen Teenager mit Pubertätsproblemen denken: „Sobald ich ihn im Fernsehen sehe, geht mein Blutdruck nach oben.“Sie wird Biden wählen. In der Hoffnung, den Präsidenten Trump nicht länger ertragen zu müssen.
Es sind Frauen wie Fowler, die das Zünglein an der Waage bilden, „suburban women“, wie die Wahlforschung sie nennt. Viele haben einen College-Abschluss, viele einen gut bezahlten Job. Viele geben den Wirtschaftskonzepten der Konservativen, mit niedrigen Steuern als Kernpunkt, den Vorzug vor denen der Progressiven. Ansonsten stehen sie für Toleranz. Gegen die Gleichstellung der Homo-Ehe haben sie ebenso wenig einzuwenden wie gegen das Abtreibungsrecht. Trumps Vokabular, seine stets persönlichen Attacken gegen Rivalen, sein kalter Narzissmus in der Corona-Krise, das alles geht ihnen gegen den Strich. Bei den Kongresswahlen 2018 waren es „suburban women“, die den Demokraten, oft Kandidatinnen, im Vorstadtmilieu der Mittelschichten den Weg ins Abgeordnetenhaus in Washington ebneten. Folgt man den Demoskopen, favorisieren sie derzeit zu 55 Prozent Biden und nur zu 41 Prozent Trump, während sich der Rest nicht festlegen will. Das kann sich bis zur Wahl noch ändern, doch momentan sieht es so aus, als würden die Frauen Suburbias einen Macho im höchsten Staatsamt ihre Missbilligung spüren lassen.
Von der Hitze der Wahlschlacht ist in Cary, in hügeligen Straßen, die Lantern Ridge Lane oder Ollivander Drive heißen, übrigens so gut wie nichts zu spüren. Auf einer Veranda weht eine Trump-2020-Flagge, neben den Hexen und Gerippen und Grabsteinen in den Vorgärten ringsum, die vor Halloween vom Dachboden geholt werden. Aber das war’s dann auch schon an Wahlwerbung. Es ist nicht so, dass es an Plakaten mangelt, doch die sind anderen Themen gewidmet. Eines verkündet stolz, dass hier der Schüler der Woche wohnt. Auf einem anderen steht: „Egal, woher du kommst, wir freuen uns, dass du unser Nachbar bist“. In drei Sprachen, auf Englisch, Spanisch und Arabisch.
So wie Trump die Vororte beschreibt, erinnert es an Mayberry, eine fiktive Südstaaten-Gemeinde in North Carolina, in der die „Andy Griffith Show“spielte, mit einem verwitweten Sheriff in der Hauptrolle. Die Serie wurde in den 1960erJahren gedreht, heute ist Mayberry
US-Präsident Donald Trump ein Synonym für ein verklärtes Stück Vergangenheit, klein und übersichtlich, von der Hautfarbe her überwiegend weiß. Während der Präsident die Welt von gestern heraufbeschwört, sieht die Realität deutlich vielschichtiger aus, auch ethnisch. Im Wake County geht das rasante Bevölkerungswachstum maßgeblich auf Migranten zurück. In Cary beschäftigt der Software-Anbieter SAS Programmierer mit Wurzeln rund um den Globus, darunter etliche, die in Indien geboren wurden. Im Nachbarort Morrisville gibt es neben den Baptistenkirchen des alten Südens mehrere Hindutempel. 43 Prozent der rund dreißigtausend Bewohner sind Weiße, zwölf Prozent Schwarze, 38 Prozent fallen unter die Kategorie Asian-Americans, womit Einwanderer aus Asien und deren Nachkommen gemeint sind.
Der demografische Wandel werde mit dafür sorgen, dass Trump im Wake County schlechter abschneide als noch vor vier Jahren, orakelt Kilgore, die Anthropologin. „Und dann ist da noch RBG.“Ruth Bader Ginsburg, die im September verstorbene Verfassungsrichterin, eine Symbolfigur des liberalen Amerika. Eine Juristin, der auch „suburban women“mit großem Respekt begegneten. Dass sie durch eine stramm konservative Nachfolgerin ersetzt werden soll, obendrein in einem fragwürdigen Schnellverfahren, werde Suburbia mobilisieren, zumindest dessen weiblichen Teil, glaubt Kilgore. Viele Frauen hätten das Gefühl, dass auf einmal alles auf der Kippe stehe, wofür Wegbereiterinnen wie Ginsburg gekämpft hätten. Sie merke es an der Zahl der Freiwilligen, die sich meldeten, um die Trommel für die Demokraten zu rühren. Es seien so viele, wie sie es noch nie erlebt habe.
„Vorstadtfrauen, habt mich bitte lieb!“