So ist Kultur absolut systemrelevant
Zum Jubiläum lässt die Marionettenoper ihre Puppen mit Sängern und Orchester auftreten
- Etwas derart Schönes hat man schon lange nicht mehr erlebt! Die Jubiläumsvorstellung der Lindauer Marionettenoper führt eindrucksvoll vor Augen, wie systemrelevant Kultur ist.
Martin Summer schubst den neben ihm stehenden Michael Feyfar zur Seite, stürmt zur Bühne und greift sich die Puppe des Pedrillo. Während der Bass weiter in der Rolle des Osmin seine Wut über diesen nervigen Diener heraussingt, würgt er die Marionette und wirft sie am Ende auf die Bühne. Jeder Solist hat einen solchen Moment, in dem er direkt auf der Bühne mit einer Puppe agiert. Diese Momente machen diese Vorstellung so einzigartig.
Zum 20. Jubiläum der Lindauer Marionettenoper hat sich deren Leiter Bernhard Leismüller einen Traum erfüllt und Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“mit Live-Orchester und Live-Sängern auf die große Bühne des Lindauer Stadttheaters gebracht. Wegen Corona blieb ihm ein volles Haus zwar verwehrt, doch auch so war der Abend ein einmaliges Erlebnis. Es bleibt die Hoffnung, dass solche Abende irgendwann auch wieder in ausverkauften Häusern möglich sind. Denn diese Bemühungen haben ein großes Publikum verdient.
„Wir waren damals genauso aufgeregt, wie wir es heute sind“, gestand Leismüller vor Beginn der Vorstellung. Denn vor 20 Jahren hat er die Lindauer Marionettenoper auch mit der „Entführung aus dem Serail“eröffnet. Als Elfjähriger hat er diese Oper im Marionettentheater seiner Heimatstadt Bad Tölz gesehen und seine Liebe zu den Marionetten entdeckt. Deshalb stand schon lange fest, dass er sie zum Jubiläum neu inszenieren wollte.
Besondere Herausforderung sollte das Zusammenspiel mit Live-Orchester
und Sängern sein. Denn das fordert Puppenspieler nochmal ganz anders als das Spielen zu Musik und Gesang aus der Konserve. Das ist ihnen bei der Premiere hervorragend gelungen. Sollte irgendwo mal eine Bewegung nicht genau synchron gewesen sein, ist das im Publikum niemandem aufgefallen.
Besonders war auch, dass die Zuschauer die Puppenspieler während der gesamten Vorstellung sehen konnten. Bewundern konnte man so, wie in turbulenten Szenen die Spieler virtuos die Spielkreuze untereinander weitergegeben haben. Deutlich wird auch der erhebliche Aufwand: Leismüller hat jede Puppe nämlich zweimal angefertigt. In Szenen, die im Hintergrund spielen, treten kleinere Puppen auf, um den Effekt von Nähe und Distanz erlebbar zu machen.
Kulturamtsleiter Alexander Warmbrunn gratulierte Leismüller und seinem Team und dankte für deren einzigartigen Beitrag zum Lindauer Kulturleben. Da sie mit einer mobilen Bühne auch bei Gastspielreisen unterwegs sind, nannte Warmbrunn die Marionettenoper zudem einen „internationalen Kulturbotschafter für Lindau“. Es sei große Kunst, dass die Zuschauer meist nach wenigen Minuten vergessen, dass auf der Bühne nur Marionetten stehen: „Die Figuren fangen an, lebendig zu werden.“
Dieser Effekt stellt sich bei der Jubiläumsvorstellung nicht dauerhaft ein. Denn der Blick des Zuschauers wechselt zwischen den Sängern auf der Bühne, den Puppenspielern oben und den Figuren hin und her. Am stärksten sind die Momente, wenn die Sänger direkt mit den Marionetten agieren. So stärkt Sopranistin Gloria Rehm die verzweifelte Konstanze, während die Figur des Belmonte den Tenor Daniel Johannsen stützt. Am meisten beeindruckt Theodora Raftis als Blonde, die dieser Figur wirklich Feuer und Esprit gibt. Aber auch Michael Feyfar (Pedrillo) und Martin Summer (Osmin) überzeugen.
Und Hubert Dragaschnig ersetzt am Ende den Bassa Selim gleich ganz, wenn er auf Rache für erlittenes Unrecht verzichtet und seine Sklaven freilässt. Das hat den wunderbaren inszenatorischen Effekt, dass die Figuren zu ihm wirklich aufschauen müssen.
Hinzu kommt das Orchester Concerto Stella Matutina unter Leitung von Thomas Platzgummer, das mit diesem Projekt seinen 15. Geburtstag feiert. Es macht seinem Ruf als eines der führenden Originalklang-Ensembles in Österreich alle Ehre.
Aber die Marionetten stellen sie alle in den Schatten. Da macht es gar nichts, dass man von hinteren Reihen des Stadttheaters die Feinheiten der geschnitzten Köpfe und Kostüme nicht genau erkennen kann. Leismüller hat auch diesmal alle Marionetten selbst gebaut. Etwa 500 sind es insgesamt, die er in den 20 Jahren in Lindau geschaffen hat.
Auch seine Stückauswahl passt in diese Zeit. So werfen sich Konstanze und die Blonde gegenseitig vor, falsch mit der aussichtslosen Lage in der Sklaverei umzugehen: „Wer sich immer das Schlimmste vorstellt, ist auch wahrhaftig am schlimmsten dran. – Und wer sich immer mit Hoffnung schmeichelt und zuletzt betrogen sieht, hat alsdann nichts mehr übrig als die Verzweiflung.“Und Pedrillo macht sich selbst Mut: „Nur ein feiger Tropf verzagt.“Dass die Zuschauer während der zwei Stunden Vorstellung die Masken tragen, stört kaum, zumal sie sitzen, während die Puppenspieler ebenfalls durchgehend mit Maske ihrer schweißtreibenden Arbeit nachgehen.
Umso bedauerlicher, dass zwar die bereits ausverkauften Vorstellungen in Götzis noch stattfinden können, dass die Gastspiele in Aschaffenburg aber dem Lockdown aller Kulturveranstaltungen in Deutschland zum Opfer fallen. Das gilt auch für die Veranstaltungen, die in den kommenden Wochen im Stadttheater geplant waren. Theaterleiterin Rebecca Scheiner, die den Kontakt zwischen Leismüller und dem Orchester hergestellt hatte, muss Vorstellungen absagen und neue Termine möglich machen. Kulturamtsleiter Alexander Warmbrunn deutete an, dass er sich einen besseren Umgang der Politik mit der Kultur wünschen würde, die sich an diesem Abend als absolut systemrelevant erwiesen hat. Ebenso unverzichtbar wie die Marionettenoper für Lindau. Warmbrunn: „Kultur ist das, was uns in diesen Tagen Trost und Kraft gibt.“