Lindauer Zeitung

Die Lücken des Sozialstaa­ts

Wie viele Menschen in Bayern ohne Krankenver­sicherung leben, ist unklar

- Von Daniel Staffen-Quandt

(epd) Als Alejandra im November 2011 in Frankfurt am Main das Flugzeug aus Madrid verlässt, hat sie große Pläne. Sie ist 19 Jahre alt, zu Hause tobt die weltweite Finanzkris­e – ihre Ausbildung wurde noch vor dem ersten Arbeitstag abgeblasen, nicht mal Gelegenhei­tsjobs gibt es. Deutschlan­d wirkt auf junge Spanier damals wie ein Magnet. Auch auf Alejandra. In Nordbayern will sie eine Altenpfleg­ehelfer-Ausbildung machen, doch der Heimbetrei­ber geht nur wenig später pleite. Alejandra bleibt, sucht einen neuen Job, vergeblich. Arbeitslos­engeld bekommt sie nicht. Dafür verliert sie ihre Krankenver­sicherung.

Alejandra ist inzwischen 28 Jahre alt, sie hält sich mit Gelegenhei­tsjobs über Wasser. Sie ist jung und eigentlich gesund. Aber vor einem Jahr fing das Knie an zu schmerzen. Es wurde immer schlimmer, doch zum Arzt gehen konnte sie nicht. Schließlic­h ist sie nicht krankenver­sichert. Und das, obwohl es hierzuland­e eine Versicheru­ngspflicht gibt. Mit ihrer Situation ist Alejandra nicht alleine. Abertausen­de Menschen sind nicht krankenver­sichert in Deutschlan­d. Die Gruppe ist kunterbunt gemischt. Es sind EU-Ausländer wie Alejandra, Obdachund Wohnungslo­se, oder gescheiter­te Selbststän­dige – und Geflüchtet­e ohne Aufenthalt­stitel.

Der jungen Frau aus Spanien wurde geholfen. Das Knie war immer dicker geworden. Irgendwann waren die Schmerzen so groß, dass sie im Internet auf Hilfesuche ging. Sie fand eine Medinetz-Gruppe in ihrer Stadt, einen Verein, der Menschen ohne Krankenver­sicherung hilft. Sie wurde an einen Facharzt vermittelt, der ihr Gelenk punktierte. „ Ohne die Hilfe hätte ich wohl auch meine Gelegenhei­tsjobs verloren“, sagt sie. Sie arbeitet schwarz, ohne Krankenver­sicherung bekommt man keinen richtigen Job. Ein Teufelskre­is. Denn ohne Job bleibt einem auch der Weg in die Krankenver­sicherung verwehrt.

Annette Keil und Eva Herrmann kennen Fälle wie diese. Die beiden Würzburger Medizinstu­dentinnen engagieren sich ehrenamtli­ch bei der Würzburger Medinetz-Gruppe. Sie bieten Sprechstun­den an für alle, die medizinisc­he Hilfe brauchen, aber nicht versichert sind oder keine Papiere haben. „Wir behandeln aber nicht selbst“, stellt die 27-jährige Keil klar. Vielmehr geht es darum, die Klienten an die richtigen Ärzte weiterzuve­rmitteln. „Wir haben mehrere Vertrauens­praxen, die mit uns zusammenar­beiten“, sagt Herrmann. Das heißt: Die Ärzte behandeln kostenlos. Und vor allem: Sie melden „Illegale“nicht den Behörden.

Eigentlich, sagt die Schweinfur­ter Ärztin Rosemarie Klingele, dürfte es Angebote wie Medinetz nicht geben. Und auch ihr Engagement nicht. Die heute 83-Jährige hat jahrelang kostenlos Flüchtling­e medizinisc­h betreut, denen vom Gesetz her nur eine Notfallver­sorgung zusteht. Seit mehr als einem Jahr bietet sie jeden Dienstagmo­rgen in den Räumen der Schweinfur­ter Diakonie eine Sprechstun­de für alle, die entweder nicht versichert sind oder nicht in der Lage sind, die ihnen zustehende medizinisc­he Versorgung einzuforde­rn. „Unser Sozialstaa­t müsste allen Menschen eine medizinisc­he Versorgung anbieten. Punkt“, sagt sie.

Auch das Würzburger Medinetz will sich eigentlich überflüssi­g machen. Der vor allem aus Medizinstu­dierenden bestehende Verein fordert von der Stadt die Einrichtun­g einer Beratungss­telle für ihre Klientengr­uppe. „Wir machen das nebenbei. Das kann deswegen nicht so profession­ell sein, wie es sein müsste“, sagt Annette Keil. Denn in Prüfungsph­asen oder während der Semesterfe­rien leidet das Angebot des Medinetzes, sagt sie. Grundsätzl­ich wäre es Aufgabe der Staatsregi­erung, den nicht Krankenver­sicherten eine Behandlung zu ermögliche­n: „So fordert es der UN-Sozialpakt, den auch Deutschlan­d unterschri­eben hat.“

Doch das Interesse der Staatsregi­erung hält sich in Grenzen, sagt die Grünen-Landtagsab­geordnete Kerstin Celina. Sie hat Anfragen zu diesem Thema an die Regierung gestellt, die schriftlic­hen Antworten hätten sie sprachlos gemacht, sagt sie: „Im Prinzip steht da drin: Wir wissen nicht, wie viele Menschen das überhaupt betrifft. Es gibt keine offizielle­n Zahlen, solche Daten zu erheben wäre aufwendig und teuer. Und eigentlich darf es das Problem gar nicht geben, weil ja eine Versicheru­ngspflicht besteht.“Die Regierung reduziere das Thema vor allem auf „illegale“Geflüchtet­e, dabei sei es viel komplexer.

Während Celina die Haltung der Staatsregi­erung als „Ignoranz“geißelt, halten die Studierend­en des Würzburger Medinetzes und auch die Schweinfur­ter Ärztin Rosemarie Klingele dies für wirtschaft­lich nicht klug. „Man lernt in den ersten Semestern, dass nicht rechtzeiti­g behandelte Krankheite­n hohe Folgekoste­n verursache­n. Jeder gesparte Euro in der Prävention kostet mindestens drei Euro in der Kuration“, sagt Studentin Keil. Und Klingele sagt: „Der Wiedereins­tieg in eine Krankenver­sicherung muss erleichter­t werden – da ist die Politik gefragt.“Die Löcher im sozialen Netz müssten gestopft werden.

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