Die Lücken des Sozialstaats
Wie viele Menschen in Bayern ohne Krankenversicherung leben, ist unklar
(epd) Als Alejandra im November 2011 in Frankfurt am Main das Flugzeug aus Madrid verlässt, hat sie große Pläne. Sie ist 19 Jahre alt, zu Hause tobt die weltweite Finanzkrise – ihre Ausbildung wurde noch vor dem ersten Arbeitstag abgeblasen, nicht mal Gelegenheitsjobs gibt es. Deutschland wirkt auf junge Spanier damals wie ein Magnet. Auch auf Alejandra. In Nordbayern will sie eine Altenpflegehelfer-Ausbildung machen, doch der Heimbetreiber geht nur wenig später pleite. Alejandra bleibt, sucht einen neuen Job, vergeblich. Arbeitslosengeld bekommt sie nicht. Dafür verliert sie ihre Krankenversicherung.
Alejandra ist inzwischen 28 Jahre alt, sie hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Sie ist jung und eigentlich gesund. Aber vor einem Jahr fing das Knie an zu schmerzen. Es wurde immer schlimmer, doch zum Arzt gehen konnte sie nicht. Schließlich ist sie nicht krankenversichert. Und das, obwohl es hierzulande eine Versicherungspflicht gibt. Mit ihrer Situation ist Alejandra nicht alleine. Abertausende Menschen sind nicht krankenversichert in Deutschland. Die Gruppe ist kunterbunt gemischt. Es sind EU-Ausländer wie Alejandra, Obdachund Wohnungslose, oder gescheiterte Selbstständige – und Geflüchtete ohne Aufenthaltstitel.
Der jungen Frau aus Spanien wurde geholfen. Das Knie war immer dicker geworden. Irgendwann waren die Schmerzen so groß, dass sie im Internet auf Hilfesuche ging. Sie fand eine Medinetz-Gruppe in ihrer Stadt, einen Verein, der Menschen ohne Krankenversicherung hilft. Sie wurde an einen Facharzt vermittelt, der ihr Gelenk punktierte. „ Ohne die Hilfe hätte ich wohl auch meine Gelegenheitsjobs verloren“, sagt sie. Sie arbeitet schwarz, ohne Krankenversicherung bekommt man keinen richtigen Job. Ein Teufelskreis. Denn ohne Job bleibt einem auch der Weg in die Krankenversicherung verwehrt.
Annette Keil und Eva Herrmann kennen Fälle wie diese. Die beiden Würzburger Medizinstudentinnen engagieren sich ehrenamtlich bei der Würzburger Medinetz-Gruppe. Sie bieten Sprechstunden an für alle, die medizinische Hilfe brauchen, aber nicht versichert sind oder keine Papiere haben. „Wir behandeln aber nicht selbst“, stellt die 27-jährige Keil klar. Vielmehr geht es darum, die Klienten an die richtigen Ärzte weiterzuvermitteln. „Wir haben mehrere Vertrauenspraxen, die mit uns zusammenarbeiten“, sagt Herrmann. Das heißt: Die Ärzte behandeln kostenlos. Und vor allem: Sie melden „Illegale“nicht den Behörden.
Eigentlich, sagt die Schweinfurter Ärztin Rosemarie Klingele, dürfte es Angebote wie Medinetz nicht geben. Und auch ihr Engagement nicht. Die heute 83-Jährige hat jahrelang kostenlos Flüchtlinge medizinisch betreut, denen vom Gesetz her nur eine Notfallversorgung zusteht. Seit mehr als einem Jahr bietet sie jeden Dienstagmorgen in den Räumen der Schweinfurter Diakonie eine Sprechstunde für alle, die entweder nicht versichert sind oder nicht in der Lage sind, die ihnen zustehende medizinische Versorgung einzufordern. „Unser Sozialstaat müsste allen Menschen eine medizinische Versorgung anbieten. Punkt“, sagt sie.
Auch das Würzburger Medinetz will sich eigentlich überflüssig machen. Der vor allem aus Medizinstudierenden bestehende Verein fordert von der Stadt die Einrichtung einer Beratungsstelle für ihre Klientengruppe. „Wir machen das nebenbei. Das kann deswegen nicht so professionell sein, wie es sein müsste“, sagt Annette Keil. Denn in Prüfungsphasen oder während der Semesterferien leidet das Angebot des Medinetzes, sagt sie. Grundsätzlich wäre es Aufgabe der Staatsregierung, den nicht Krankenversicherten eine Behandlung zu ermöglichen: „So fordert es der UN-Sozialpakt, den auch Deutschland unterschrieben hat.“
Doch das Interesse der Staatsregierung hält sich in Grenzen, sagt die Grünen-Landtagsabgeordnete Kerstin Celina. Sie hat Anfragen zu diesem Thema an die Regierung gestellt, die schriftlichen Antworten hätten sie sprachlos gemacht, sagt sie: „Im Prinzip steht da drin: Wir wissen nicht, wie viele Menschen das überhaupt betrifft. Es gibt keine offiziellen Zahlen, solche Daten zu erheben wäre aufwendig und teuer. Und eigentlich darf es das Problem gar nicht geben, weil ja eine Versicherungspflicht besteht.“Die Regierung reduziere das Thema vor allem auf „illegale“Geflüchtete, dabei sei es viel komplexer.
Während Celina die Haltung der Staatsregierung als „Ignoranz“geißelt, halten die Studierenden des Würzburger Medinetzes und auch die Schweinfurter Ärztin Rosemarie Klingele dies für wirtschaftlich nicht klug. „Man lernt in den ersten Semestern, dass nicht rechtzeitig behandelte Krankheiten hohe Folgekosten verursachen. Jeder gesparte Euro in der Prävention kostet mindestens drei Euro in der Kuration“, sagt Studentin Keil. Und Klingele sagt: „Der Wiedereinstieg in eine Krankenversicherung muss erleichtert werden – da ist die Politik gefragt.“Die Löcher im sozialen Netz müssten gestopft werden.