Lindauer Zeitung

Schon 1920 beklagen jüdische Familien zunehmende Hetze

Von den Anfängen des völkischen Antisemiti­smus in Lindau

- Von Karl Schweizer

- Was zwischen 1940 und 1945 im europaweit­en NS-Massenmord an Menschen jüdischen Glaubens endete, hatte auch in Lindau vielfältig­e geistige Brandstift­ung als Vorbereitu­ng. Die judenfeind­liche (antisemiti­sche) Mentalität der deutschen Partei „Die Antisemite­n“(Christlich­soziale Partei, Deutsche Reformpart­ei) des späten 19. Jahrhunder­ts wurde ab 1897 auch durch die Lindauer Ortsgruppe des „Alldeutsch­en Verbandes“als deutschnat­ionale Judenfeind­schaft weiter gepflegt. Dessen bekanntest­er örtlicher Vertreter war der seit 1909 vorübergeh­end in Bodolz wohnende völkische Schriftste­ller und Verleger Philipp Stauff (1876 – 1923).

Aus diesem Alldeutsch­en Verband heraus entstand Ende 1917 die „Deutsche Vaterlands­partei“. Sie entwickelt­e wenig später auch in Lindau eine rege Vortragstä­tigkeit.

Deren in der Regel vom Lindauer Bürgertum „außerorden­tlich zahlreich besuchten“öffentlich­en Versammlun­gen dienten der meist antisemiti­sch durchsetzt­en Durchhalte­propaganda für einen deutschen Siegfriede­n im Ersten Weltkrieg, so beispielsw­eise im April 1918 im Hotel-Gasthaus „Krone“in der Ludwigstra­ße. Sie verschwand aber ab November 1918 mit der revolution­ären Beendigung des Krieges wieder aus der Öffentlich­keit. Dafür trat nun der im Februar 1919 ebenfalls aus dem Alldeutsch­en Verband heraus in Bamberg gegründete „Deutsch[völkische] Schutz- und Trutzbund“mit einem deutlich antisemiti­schen Programm auf die politische Bühne.

Bereits am 13. Dezember 1919 notierte das Lindauer Tagblatt hierzu: „Hetzplakat­e gegen die Juden prangten heute früh an verschiede­nen Stellen der Stadt. Unterzeich­net waren die Plakate vom Deutschvöl­kischen Schutz- und Trutzbund“. Rasch wurde der seit 1913 in LindauAesc­hach praktizier­ende Allgemeina­rzt Stefan Euler dessen Lindauer Ortsvorsit­zender.

Lindaus inzwischen deutschnat­ionales Tagblatt berichtete beispielsw­eise über die erste öffentlich­e Lindauer Veranstalt­ung dieses Bundes vom 3. Juni 1920 im Saal der Brauerei Schachen zum Thema „Die Judenfrage“. Dabei stimmte das Tagblatt den sachlich falschen sowie boshaften Behauptung­en und Verdrehung­en des Referenten Kurt Kerlen, Schriftste­ller aus Nürnberg, über Menschen jüdischen Glaubens gleich einleitend zu (sic!):

„Eng zusammenhä­ngend mit den verschiede­nen Tagesfrage­n der Gegenwart ist die Judenfrage heute eine der wichtigste­n, ja wohl überhaupt die ausschlagg­ebenste (…) und da ist es – reichlich spät allerdings – vielen national denkenden Deutschen und echten Vaterlands­freunden erst zum Bewusstsei­n geworden, dass der jüdische Einfluss, in erster Linie das jüdische internatio­nale Kapital, ein Hauptschul­diger an unseren heutigen traurigen Zuständen ist (…) Um so mehr hat daher der Anspruch des Redners volle Geltung, wenn er sagt, jeder soll heute noch einen Juden totschlage­n, und zwar den Juden in sich selbst…“.

Die sich selbst als „sachlich“bezeichnen­de Hetze gegen Jüdinnen und Juden wirkte, auch in Lindau.

Bereits im Vorfeld, am 31. Mai 1920, hatten sich mit Max Nördlinger, Siegfried Kochmann, Emil Spiegel und Dr. Cohn vier Lindauer jüdischen Glaubens an den Stadtrat und dessen neuen Vorsitzend­en, Bürgermeis­ter Ludwig Siebert, gewandt, da der subtile Terror gegen ihre Familien inzwischen zugenommen hatte: „Bei dem bekannten aufhetzeri­schen Inhalt der Kundgebung­en gerade dieses Bundes, in denen häufig direkt zu Gewalttäti­gkeiten gegen die jüdische Bevölkerun­g aufgeforde­rt wird, besteht die Gefahr, dass im Anschluss an solche Versammlun­gen Ausschreit­ungen stattfinde­n (…).“

Und weiter hieß es damals: „Bei dieser Gelegenhei­t gestatten wir uns, den verehrlich­en Stadtrat darauf aufmerksam zu machen, dass schon seit einiger Zeit des Nachts fortgesetz­t in den Straßen und Plätzen der Stadt (z.B. am Bahnhof, an Briefkäste­n, an Läden usw), besonders aber an den Häusern der Unterferti­gten kleine Zettel schmutzend­en und aufreizend­en Inhalts angeklebt werden, die gleichfall­s vom Deutschvöl­kischen Schutz- und Trutzbund herrühren…“.

Ab 1920 zierte ein Hakenkreuz die Zeitungsan­zeigen des Bundes. Obwohl die Lindauer Ortsgruppe noch bis 1925 bestand, war ihr Höhepunkt bereits 1922 überschrit­ten. Für den 3. Januar 1921 hatten Lindaus Deutschvöl­kische in das evangelisc­he Vereinshau­s auf der Insel zur Gründung einer Ortsgruppe der neuen faschistis­chen NSDAP aufgerufen. Dies misslang zunächst. Aus Lindaus Kleinbürge­rtum heraus wurde die erste Ortsgruppe der neuen, noch weit hetzerisch­eren und offen mit Straßenter­ror drohenden Ortsgruppe dieser „Hitler-Partei“erst im Februar 1922 gegründet. Etliche der bisherigen deutschvöl­kischen Lindauerin­nen und Lindauer wandten sich nun mit der Zeit der NSDAP und deren völkischen Judenfeind­schaft zu.

 ?? FOTO: SAMMLUNG KARL DIETLEIN, REPRO: KARL SCHWEIZER ?? Blick auf das Damen-Bekleidung­sgeschäft der Konstanzer Firma Spiegel & Wolf in der Lindauer Maximilian­straße um das Jahr 1910. Die Konstanzer Familie von Ernst Josef Spiegel sowie die Lindauer Familie von Emil Spiegel waren über ihren gemeinsame­n Onkel Max Spiegel miteinande­r verwandt. 1938 „arisierte“das NS-Regime die Lindauer Firma Spiegel & Wolf zugunsten von „Müller-Moden“.
FOTO: SAMMLUNG KARL DIETLEIN, REPRO: KARL SCHWEIZER Blick auf das Damen-Bekleidung­sgeschäft der Konstanzer Firma Spiegel & Wolf in der Lindauer Maximilian­straße um das Jahr 1910. Die Konstanzer Familie von Ernst Josef Spiegel sowie die Lindauer Familie von Emil Spiegel waren über ihren gemeinsame­n Onkel Max Spiegel miteinande­r verwandt. 1938 „arisierte“das NS-Regime die Lindauer Firma Spiegel & Wolf zugunsten von „Müller-Moden“.

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