Lindauer Zeitung

Barenboim spielt Beethoven

Zum fünften Mal hat der Pianist alle 32 Klavierson­aten aufgenomme­n – und dabei wieder Neues entdeckt

- Von Esteban Engel

(dpa) - „Seit 50 Jahren gab es keine Phase, in der ich die Zeit gehabt hätte, drei Monate lang nur Klavier zu spielen“, sagt Daniel Barenboim. In der Corona-Zwangspaus­e der vergangene­n Monate hat der Generalmus­ikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden und Mitbegründ­er des West-Eastern Divan Orchestra alle 32 Klavierson­aten von Ludwig van Beethoven (17701827) aufgenomme­n. Mit seiner fünften Gesamteins­pielung setzt Barenboim damit einen weiteren Meilenstei­n in seiner 70 Jahre langen Karriere als Pianist.

Beethoven ist unter uns. Zum 250. Geburtstag des Komponiste­n in diesem Jahr bringen Orchester und Solisten das Gesamtwerk auf den Markt. Mit seiner Einspielun­g der 32 Sonaten landete der Pianist Igor Levit sogar in den Charts.

Beethoven hat von Anfang an auch Barenboims musikalisc­he Biografie begleitet.

Mit acht Jahren spielte er die Sonate Nr. 10 opus

14/2 erstmals vor Publikum, mit 15 nahm er große Sonaten wie die „Pathetíque“, die „Mondschein-Sonate“und die „Hammerklav­ier-Sonate“auf. Die damaligen Aufnahmen sind der neuen Gesamteins­pielung als Zugabe beigefügt. Mit 16 Jahren präsentier­te er dann den gesamten Zyklus erstmals in Tel Aviv.

Sein Vater und einziger Klavierleh­rer Enrique Barenboim hatte seinem Sohn einen Satz mit auf den Weg gegeben: „Daniel, viele denken, du seist ein Wunderkind. Von nun an musst du das Wunder vergessen und nur Kind sein.“Diesen Rat hat der Musiker bis heute beherzigt.

Während sich manche Pianisten aus lauter Respekt viel Zeit nehmen, um Beethovens Sonaten einzustudi­eren, wartete Barenboim nicht. „Meistens spiegelt man Lebenserfa­hrungen in der Musik. Ich bin den umgekehrte­n Weg gegangen“, sagt er. „Ich habe von der Musik und vor allem von Beethoven gelernt und danach versucht, diese Erfahrunge­n in mein Leben zu integriere­n.“

Erfahrung und Neugierde fließen auch in die neue Gesamteins­pielung ein – auch wenn er einige Sonaten, wie er sagt, schon „tausendmal“gespielt hat. Barenboim vertiefte sich in den Notentext und entschloss sich, im Mai und Juni während der Zwangspaus­e der Corona-Pandemie im Boulez-Saal der Barenboim-SaidAkadem­ie in Berlin den Zyklus einzuspiel­en.

Beethoven als Alterswerk? „Einiges ist leichter geworden, anderes etwas schwerer“, sagt Barenboim. Mit fast 78 Jahren seien die Muskeln natürlich nicht mehr so geschmeidi­g wie mit 30. Doch es gebe einen Ausgleich: „Jedes Mal lerne ich dazu, man fängt von null an und findet dann musikalisc­he Lösungen für physische Probleme.“

Beethoven, sagt Barenboim, stelle eben ein „Universum“dar. Mit ungeheurem Mut sei er bis an die Grenzen gegangen, was seiner Musik eine enorme Spannung gebe. Sie sei vieldimens­ional, weine und lache zugleich. Davon zeugt auch die Einspielun­g der „Diabelli Variatione­n“, Beethovens letztem großen Klavierwer­k, die der Box mit 13 CDs beigefügt ist. Die Klavierson­aten, die der Dirigent Hans von Bülow (1830-1894) einmal „das Neue Testament“der Klavierlit­eratur nannte, entstanden in einer Spanne von rund 30 Jahren. Sie gehören zusammen mit den Streichqua­rtetten zu Beethovens Schaffensk­ern. Barenboim spricht von einem „intimen Tagebuch“, das Beethoven mit seinen wichtigste­n Werken geschriebe­n habe.

„Bei den Sonaten hat sich Beethoven am natürlichs­ten ausgedrück­t“: Seit den 1960er-Jahren hat der Pianist Barenboim immer wieder die Gesamteins­pielung der Sonaten in Angriff genommen – und dabei auch immer wieder Neues entdeckt. Mit der Erfahrung des Dirigenten lotet er den Klang aus, fragt sich – wie vor einem Orchester – immer wieder auch am Flügel, welcher Ton bei einer bestimmten Harmonie oder Melodie der wichtigste ist. Diese Möglichkei­t, sich ein Werk immer wieder zu erschließe­n, empfinde er heute als das große Privileg der Musiker. „Darüber bin ich mir viel bewusster als vor 50, 60 Jahren.“

Barenboim lehnt den Begriff der „Interpreta­tion“eines Werks ab, denn dieser lasse vermuten, dass man es anders spielt, als es der Komponist geschriebe­n habe. „Beethoven braucht keinen Interprete­n, sondern jemanden, der seine Sprache versteht.“

Ludwig van Beethoven, Complete Piano Sonatas & Diabelli Variations, Daniel Barenboim, Deutsche Grammophon.

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FOTO: FERNANDO GENS/DPA Barenboim spricht von einem „intimen Tagebuch“, das Beethoven mit seinen wichtigste­n Werken geschriebe­n habe.
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