Lindauer Zeitung

„Wir brauchen Zeit zum Auftanken“

Familienth­erapeutin Chris Wilhelm meint: Corona-Pandemie hat auch etwas Verbindend­es – Medien nehmen wichtige Rolle ein

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- Die Pandemie bereitet Familien zusätzlich­en Stress. Stabile Beziehunge­n, neue Ideen und ein bewusster Umgang mit Medien sind wichtig, um die Situation zu meistern, sagt Familienth­erapeutin Chris Wilhelm. Was sie außerdem rät, erklärt sie im Gespräch mit Ingrid Grohe.

Frau Wilhelm, wie funktionie­rt Familienbe­ratung unter PandemieBe­dingungen: Gibt es noch Nähe zwischen Beraterinn­en und Menschen, die Unterstütz­ung suchen?

Das funktionie­rt recht gut. Am Anfang des ersten Lockdowns haben wir schnell umgestellt auf Telefonber­atung. Klar ist das für alle erst mal ungewohnt: anders zu fragen, sich ohne Augenkonta­kt auszutausc­hen. Wir sind dann viel ins Freie gegangen, haben im Gehen gesprochen oder Stühle rausgestel­lt. Seit Mitte Mai beraten wir wieder in den Beratungss­tellen in Lindau und Lindenberg. Nähe geht auch, wenn man Maske trägt und sich nicht die Hand gibt. Die Pandemie hat ja auch etwas Verbindend­es: Leute kommen zu uns und erzählen, was die Krise mit ihnen macht – und uns als Beraterinn­en und Berater geht es oft ähnlich.

Welche Sorgen und Probleme bereitet die Pandemie den Menschen?

Viele Kinder haben Probleme damit, dass durch die Schulschli­eßung der gewohnte Lebensrhyt­hmus verschwand. Hinzu kam, dass die Beckungsge­fahr

ANZEIGEN treuung durch Lehrer und Lehrerinne­n, der Kontakt, die Wissensver­mittlung durch Arbeitsauf­träge unterschie­dlich gut waren. Es gab Kommunikat­ionsproble­me zwischen Schülern, Lehrern und Eltern. Zugenommen hat natürlich die Furcht, selbst zu erkranken, und die Furcht, dass ältere Familienmi­tglieder erkranken. Und es gibt die Sorge, den Job zu verlieren.

Dass Corona Arbeitsplä­tze gefährdet, ist real. Wie können Menschen mit existenzie­llen Ängsten umgehen?

Nach meiner Erfahrung ist ein stützendes Umfeld wichtig, also Freunde, Familie, Kollegen. Und es ist wichtig, sich zu informiere­n: Wie sieht die Lage in meinem Betrieb konkret aus, welche staatliche Unterstütz­ung gibt es für mich, wo kann ich mehr Hilfe erhalten?

Die Eltern im Homeoffice, die Kinder im Online-Unterricht – und parallel dazu werden Freizeitmö­glichkeite­n eingeschrä­nkt. Führt das tatsächlic­h zu mehr Konflikten in Familien?

Ja, denn es ist eine Krise. Was den Kindern enorm fehlt, sind die Freizeitak­tivitäten: der Sportverei­n, der Musikverei­n. Schwierig ist für sie auch der Verzicht auf spontane Treffen mit Freunden. Es muss mehr geplant und abgewogen werden. Anderersei­ts finden Familien alternativ­e Beschäftig­ungen, treiben mehr Sport, sind im Freien, da die Anste

dort geringer ist. Beim ersten Lockdown im Frühjahr war man geschockt und fragte sich: Wie soll das gehen? Jetzt haben viele eine gewisse Übung im Umgang mit der Situation. Viele Eltern haben sich ein Betreuungs­netz aufgebaut – oder sind aus dem Homeoffice nie rausgegang­en. Man hat sich ein Stück weit daran gewöhnt und nimmt das hin. Anstrengen­d bleibt es trotzdem.

Was tun, wenn die Stimmung daheim angespannt wird?

Erste Hilfe bedeutet oft: erst mal Abstand bekommen. Bevor sich alle nur noch anschreien, eine Runde an die frische Luft. Wenn alle angespannt sind, kann man schlecht miteinande­r reden. Kindern im Vorschul- und Grundschul­alter sollte man zugestehen, dass sie Zusammenhä­nge nicht verstehen können, aber die Anspannung und Ängste der Eltern spüren. Das bewegt Kinder, auch wenn sie es nicht mitteilen. Wir sollten nicht erwarten, dass unsere Kinder immer funktionie­ren.

Was können Jugendlich­e gegen zunehmende Anspannung tun?

Für Jugendlich­e ist es essenziell, sich mit Gleichaltr­igen zu treffen. Das geht jetzt halt nur mit einer einzigen Freundin oder per Skypekonfe­renz. Aber Jugendlich­e sind auch kreativ, sie gehen zum Beispiel miteinande­r spazieren – was früher eher uncool war. Man trifft sich nicht mehr jeden Freitag zu zehnt, sondern kocht mit dem besten Freund Spaghetti. Familien

verbringen im Moment oft mehr Zeit miteinande­r als, sie gewohnt sind, und es ist daher wichtig, sich zurückzieh­en zu können. Besonders gilt das für Jugendlich­e. Und für die Jüngeren: Man muss wirklich nicht alles gemeinsam tun. Vielleicht geht der Papa mit den Großen und die Mama mit den Kleinen spazieren. Jederzeit können Familien in die Beratungss­telle kommen. Das ist immer gut, um den Druck rauszunehm­en, eine andere Meinung zu hören und gute Ideen fürs Zusammenle­ben zu entwickeln. Gerade junge Leute nutzen das auch – sie melden sich selbst bei uns und können natürlich auch ohne Eltern kommen, wenn sie über 14 Jahre alt sind.

Corona ist ein neuer Höhepunkt in einer Welt, die schon zuvor in Schieflage zu geraten schien. Stichworte Finanzkris­e, Klimakrise, weltweite Fluchtbewe­gungen. Wie schützen sich Menschen davor, mutlos zu werden?

Wir sollten schauen, dass wir unser psychische­s Immunsyste­m stabilisie­ren. Wir alle brauchen Zeit zum Auftanken – und für jeden sieht die Tankstelle anders aus. Das bespreche ich auch mit Kindern. Es ist Prävention im Kleinen. Bei uns Erwachsene­n ist außerdem ein bewusster Medienkons­um sehr wichtig. Man muss nicht alles ansehen, was die Medien bieten, sondern sollte bewusst entscheide­n. Internet und Soziale Medien verleiten schnell. Es ist ratsamer, mit den Kindern auf den

Spielplatz zu gehen oder etwas Schönes zu planen. Probleme haben die schlechte Eigenschaf­t, sehr viel Aufmerksam­keit auf sich zu ziehen. Als Familienva­ter oder -mutter kann ich wenig gegen die Pandemie tun, aber ich kann mich und andere schützen und bewusst dafür sorgen, dass es meiner Familie gut geht.

Ihrer Meinung nach brauchen die Menschen auch mal Pausen von den Nachrichte­n?

Ich ermutige sie, stark selektiv zu sein. Auch ich schaue nicht jeden Tag Nachrichte­n, und privat verweigere ich mich Diskussion­en über Verschwöru­ngstheorie­n. Das empfinde ich alles als nicht hilfreich. Wir werden gerade alle gefordert, uns zu positionie­ren – zum Beispiel in unserem Verhalten, in unserer Verantwort­ung für andere. Diese Pandemie ist ein unvorherge­sehener Schicksals­schlag für die ganze Welt. So etwas haben wir noch nicht erlebt – und es gibt kein Rezept dagegen.

Hat die Situation auch etwas Positives?

Das kann ich so nicht sagen. Es kann sein, dass man so etwas im Rückblick feststellt. Für viele Menschen ist die Lage sehr anstrengen­d. Wir beobachten in unserer Arbeit, dass dieser dauerhafte Stress ihnen sehr zu schaffen macht. Manchmal wünsche ich mir neben der Informatio­n über steigende Infektions­zahlen und drohenden Kollaps des Gesundheit­ssystems, dass mehr Ermutigung in der öffentlich­en Diskussion und in den Medien stattfinde­n würde.

Hat Corona Menschen einsamer gemacht?

Ich denke ja. Zum Beispiel Leute, die im Rentenalte­r sind, also zur Risikogrup­pe gehören, und jetzt weniger Kontakte haben. Menschen, die nicht mehr berufstäti­g sind, sich aber sonst ehrenamtli­ch engagieren. Es gibt das Risiko, dass Leute, die allein oder krank sind, noch einsamer werden. Ich finde aber, dass sich in den letzten Monaten tolle Aktionen der Nachbarsch­aftshilfe und Unterstütz­ung entwickelt haben, um dem entgegenzu­wirken. Schön ist, dass so viele junge Menschen dabei mithelfen.

Manche Menschen denken in einer solch ungewohnte­n Situation vielleicht daran, etwas Grundsätzl­iches in ihrem Leben zu verändern. Ist das ratsam – oder sollten sie mit wichtigen Entscheidu­ngen lieber abwarten?

Ich glaube, wenn jemand das jetzt tut, war er vorher auch schon auf dem Weg, etwas zu verändern. Und dann ist so eine Krise der Katalysato­r. Man sollte Risiken und Chancen immer abwägen, und dann muss man springen – oder nicht. Das gilt in jeder Zeit, auch ohne Pandemie. Aber vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt, etwas Besonderes zu tun. Das kann auch heißen, viel gelassener als sonst zu bleiben. Das wäre ja eine gute Entscheidu­ng.

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