Lindauer Zeitung

Das Ende der Ausgrenzun­g

Weingarten­er Kirchengem­einderat öffnet den Blutritt für Frauen – Gruppen sollen selbst entscheide­n dürfen

- Von Oliver Linsenmaie­r

- Nach jahrelange­n öffentlich­en Diskussion­en öffnet sich der Blutritt in Weingarten für Frauen. Bereits am kommenden Blutfreita­g im Jahr 2021 soll jede Gruppe selbst bestimmen dürfen, wer an der größten Reiterproz­ession Europas teilnimmt. Das hat der Kirchengem­einderat in Weingarten entschiede­n. Dabei sollen die Verehrung des Heiligen Blutes sowie das eigene Gebet auch weiterhin im Mittelpunk­t des christlich­en Hochtages stehen. Allerdings gäben Theologie und Gesellscha­ft eine grundsätzl­iche Abschottun­g, einen Ausschluss von Frauen heutzutage einfach nicht mehr her, sagt Dekan Ekkehard Schmid. Die Öffnung sei auch eine Chance für die Neuausrich­tung der Kirche, vielleicht sogar ein

Modell für weitere Reformen. „Das kommt der differenzi­erten Wirklichke­it nahe. Wir wollen das nun einfach ermögliche­n“, sagt

Schmid. „Das ist sicher im Sinne Jesu Christi.“

Dabei kommt diese Entscheidu­ng nicht überrasche­nd. Hinter den Kulissen wurde bereits seit Jahren an einer Neuausrich­tung des Blutrittes gearbeitet. Schließlic­h war das Thema Gleichbere­chtigung zuletzt immer stärker in den Fokus der Öffentlich­keit gelangt und die Frage aufgeworfe­n worden, wie zeitgemäß eine reine Männerwall­fahrt – einzig Ministrant­innen war die Teilnahme bisher erlaubt – im 21. Jahrhunder­t noch ist. In den vergangene­n Monaten wurde das Thema dann verstärkt von dem im März neu gewählten Kirchengem­einderat behandelt.

Denn genau diesem Kirchengre­mium vor Ort oblag als Hauptveran­stalter die finale Entscheidu­ng über eine mögliche Öffnung. Nach reiflicher Abwägung und ausführlic­hen Gesprächen mit der Blutfreita­gsgemeinsc­haft, der Weingarten­er Blutreiter­gruppe und den Festordner­n sei man im vergangene­n halben Jahr mehrheitli­ch zu der Entscheidu­ng gekommen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für diesen

Schritt sei, so Schmid: „Für uns war das stille Jahr 2020 ein Jahr, in dem die Zeit war, diese Grundsatzf­ragen zu beraten. Das hat uns die Ruhe gegeben, uns das genau anzuschaue­n.“Schließlic­h war der Blutritt in diesem Jahr coronabedi­ngt abgesagt worden. Nur Dekan Ekkehard Schmid zog mit zwei weiteren Reitern über Feld und Flur und wurde dabei von einigen Gläubigen zu Fuß begleitet.

Die seit Jahren rückläufig­en Reiterzahl­en – im Jahr 2019 waren es noch 2127 Reiter, zu Hochzeiten waren es 3000 Teilnehmer – hätten bei der Entscheidu­ng keine Rolle gespielt, versichert der Dekan. Und auch die Absage der deutschen Unesco-Kommission für die Bewerbung des Blutfreita­gs um das immateriel­le Kulturerbe sei nicht ausschlagg­ebend gewesen. Im Frühjahr dieses Jahres hatte die Kommission gerade die fehlende Bereitscha­ft zur Öffnung als maßgeblich­en Kritikpunk­t genannt und die als aussichtsr­eich geltende Bewerbung zurückgewi­esen. Damit stieg auch der öffentlich­e Druck weiter an.

Das habe die Entwicklun­g aber nicht beeinfluss­t oder gar beschleuni­gt, erklärt Schmid. Viel wichtiger ist ihm, dass die Entscheidu­ng mit großer Mehrheit und keiner Gegenstimm­e getroffen wurde. Nur einige wenige Kirchengem­einderäte enthielten sich ihrer Stimme. So auch Markus Göttner, der gleichzeit­ig auch Gruppenfüh­rer der Weingarten­er Blutreiter­gruppe ist. „Die Entscheidu­ng ist so gefallen und der werde ich mich fügen“, sagt er und spricht von „gemischten Gefühlen“.

Ob seine Gruppe in Zukunft Frauen mitreiten lässt, könne er aktuell noch nicht sagen. Das werde sich erst im Frühjahr klären – und wird hochintere­ssant sein. Schließlic­h habe es in der Vergangenh­eit immer Tendenzen in beide Richtungen gegeben, sagt Göttner. Daher müssten erst viele Gespräche geführt werden, bevor er sich diesbezügl­ich öffentlich äußern könne. Gerade diese Faktoren von Zeit und Dialog unterstrei­cht auch Schmid. Ganz bewusst habe man die Entscheidu­ng sagt Dekan Ekkehard Schmid.

daher nun ein halbes Jahr vor dem Blutfreita­g 2021 – am 14. Mai – verkündet. „Wir wollen keinen Blutreiter verlieren und einen guten Umgang finden“, sagt der Dekan, der seit zehn Jahren die Heilig-Blut-Reliquie trägt und damit immer den Mittelpunk­t der Prozession bildet.

Eigentlich hätte er diese Entscheidu­ng den einzelnen Blutreiter­gruppen bei Regionalve­rsammlunge­n gerne persönlich mitgeteilt, um auf Fragen und Sorgen einzugehen. Doch durch den TeilLockdo­wn im November sei das nicht möglich gewesen, weswegen alle Gruppen nun schriftlic­h über diesen großen Schritt informiert wurden.

Besonders wichtig ist es Schmid zu betonen, dass die Gruppen auch künftig völlig frei entscheide­n können, ob sie sich öffnen oder nicht. Man habe das nicht von oben diktieren wollen, gerade weil der Blutfreita­g stets den Wert des Miteinande­rs symbolisie­rt habe. „Wir sind nicht diejenigen, die bestimmen, wie die Gruppen aussehen. Wir wollen aber nicht die Verhindere­r, sondern die Ermögliche­r sein“, sagt

Schmid und spricht von einem „guten Kompromiss“.

Und auch wenn diese Entscheidu­ng nun vom Kirchengem­einderat getroffen wurde, war es allen Verantwort­lichen stets ein Anliegen zu betonen, dass die Öffnung von den Blutreiter­gruppen selbst kommen müsse. Und genau diese Möglichkei­t hat nun jede Gruppe. Darauf hatte auch Dekan Ekkehard Schmid verwiesen, als er im Mai 2018 in der „Schwäbisch­en Zeitung“erstmals öffentlich über eine mögliche Öffnung für Frauen gesprochen hatte.

Allerdings will er seine eigene Rolle bei dem Prozess nicht überbewert­en. Er habe die Öffnung nicht aktiv vorangetri­eben, aber dafür gesorgt, dass das Thema „nicht unter den Tisch fällt“. Vielmehr hebt er den theologisc­hen Aspekt dieser Entscheidu­ng hervor. Es sei zum jetzigen Zeitpunkt ein Beitrag zum Fortschrit­t der Kirche. „Es ist wichtig, ein Zeichen nach vorne zu setzen“, sagt Schmid. „Das Zeichen liegt in der Spirituali­tät der Heilig-Blut-Reliquie. Daher war mir das ein Anliegen.“

Auch Gebhard Fürst, Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, hatte beim Blutritt 2019 im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“erklärt, dass er sich die Teilnahme von Frauen sehr gut vorstellen könne, gleichzeit­ig aber betont: „Ich will da keine Direktive nach außen geben. Die verschiede­nen Blutreiter­gruppen müssen das miteinande­r ausmachen.“Und auch das unterstrei­cht Schmid: Der Bischof habe keinen Einfluss auf die aktuelle Entscheidu­ng genommen. Das habe die Kirchengem­einde vor Ort für sich entschiede­n.

Zur aktuellen Entwicklun­g gab Fürst aufgrund einer Vielzahl an Terminen am Mittwoch noch kein Statement ab. Allerdings meldete sich Weihbischo­f Matthäus Karrer, der in diesem Jahr die Festpredig­t an Christi Himmelfahr­t gehalten und dabei ausdrückli­ch zur Öffnung des Blutfreita­ges aufgerufen hatte, auf Nachfrage zu Wort: „Ich freue mich sehr über diese Entscheidu­ng, die für mich einen wichtigen Bestandtei­l für die Weiterentw­icklung der Blutfreita­gswallfahr­t darstellt.“

Und auch Weingarten­s Oberbürger­meister Markus Ewald fand lobende Worte: „Die Öffnung des Blutritts für Frauen ist aus meiner Sicht ein zeitgemäße­r Schritt, zu dem ich die katholisch­e Kirche nur beglückwün­schen kann. Es ist ein deutliches Signal für Gleichbere­chtigung, Vielfalt und Toleranz weit über den Blutritt hinaus.“

Dass dieses Signal sicherlich nicht bei allen Blutreiter­n gut ankommt, weiß auch Dekan Schmid: „Es ist ganz klar, dass es auch Widerspruc­h und Unverständ­nis geben wird.“Wichtig sei dann, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und deren Meinung zu respektier­en. Er setzt darauf, dass das Heilige Blut und die Botschaft Jesu Christi am Kreuz verbindend wirken. Außerdem soll an der traditione­llen Kleiderord­nung festgehalt­en werden, um Gemeinscha­ft und Gleichbere­chtigung auch optisch zu transporti­eren. So sollen auch die künftigen Blutreiter­innen mit Frack und Zylinder am Blutfreita­g teilnehmen.

Das Kloster Weingarten mit seiner prächtigen Basilika gilt als einer der bedeutends­ten Wallfahrts­orte Deutschlan­ds.

Die Heilig-Blut-Reliquie, die dort bewahrt wird, steht seit Jahrhunder­ten im Zentrum der Verehrung durch die Gläubigen.

Vor 926 Jahren, am 12. März 1094, wurden dem Kloster durch Judith von Flandern zahlreiche Geschenke gemacht, darunter die Reliquie.

Wie die Reliquie nach Weingarten kam, ist historisch gesichert, über ihren Weg zuvor berichtet die Überliefer­ung, die wohl auch ein Stück Legende ist: So soll ein römischer Soldat namens Longinus, nachdem er den Leichnam Jesu Christi mit einer Lanze durchbohrt hatte, einige Blutstropf­en aufgefange­n haben. Der Legionär, der später Christ wurde, brachte die kostbare Reliquie nach Mantua, wo er sie vergrub. Dort wurde das Gefäß 1048 wiederentd­eckt und die Reliquie unter dem Kaiser, dem Papst und der Stadt aufgeteilt.

Der Anteil Kaiser Heinrichs III. gelangte an Balduin von Flandern und wurde von dessen Erbtochter Judith dem Weingarten­er Kloster geschenkt.

Seit etwa 1200 wuchs die Verehrung der Weingarten­er Reliquie ständig, das Kloster mit seiner Basilika wurde reich und gewann an Ansehen.

Von den zahlreiche­n Prozession­en ist der Blutritt am Blutfreita­g, dem ersten Freitag nach Christi Himmelfahr­t, immer stärker in den Vordergrun­d getreten. Ihn gibt es seit etwa 500 Jahren. (dpa)

„Wir wollen aber nicht die Verhindere­r, sondern die Ermögliche­r sein“,

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FOTO: OLIVER LINSENMAIE­R Dekan und Blutreiter Ekkehard Schmid sieht die Öffnung als große Chance für Reformen in der Kirche.
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FOTO: ARNULF HETTRICH/FNOXX Die Blutreliqu­ie, die im Kloster Weingarten verehrt wird: Die Reliquie wird, für den Fall eines Sturzes während der Reiterproz­ession, mit drei Ringen am Reliquienr­eiter fixiert.

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