Lindauer Zeitung

„Im Osten glaubte man dem Westen“

Ingo Schulze über die Überheblic­hkeit westdeutsc­her Kollegen und clevere PR-Tricks

- Muss

Ihnen vorgelesen haben, bis Sie 13 waren. Wie kam es?

Weil ich faul und bequem war. Erst als die Langeweile zu groß wurde, habe ich angefangen zu lesen. Das war eine große Entdeckung: Ich musste mich nicht mehr langweilen.

Sie hat Ihnen auch Geschichte­n erzählt, in denen die Helden Ihnen geähnelt haben sollen. Was halten Sie von Heldengesc­hichten?

Es gibt heroische Taten, es gibt auch Menschen, denen es gelingt, gegen jede Wahrschein­lichkeit mitleidend auch mit dem Feind zu sein, ich denke an jemanden wie Mandela. Aber nicht umsonst sind Helden etwas für Märchen und für ideologisc­he Erzählunge­n, in denen das Gute und das Böse immer klar getrennt sind. Der Alltag ist selten so eindeutig, mein eigenes Leben steckt voller Widersprüc­he. Und Literatur, überhaupt die Künste, wenn sie ihren Namen verdienen, habe es mit dem widersprüc­hlichen Leben zu tun, nur dass man in den Künsten die Widersprüc­he bewusster nebeneinan­derstellen kann als einem das im Alltag gelingt.

Haben Sie das aktuelle Buch von Monika Maron („Artur Lanz“) gelesen? Was denken Sie, wenn Kollegen wie Maron oder Uwe Tellkamp sagen, man könne in der BRD bald bestimmte Dinge nicht mehr sagen, so wie früher in der DDR?

Nein, habe ich noch nicht gelesen, obwohl es mich interessie­rt. Es wird doch, und Ihre Frage ist im Grunde ein Beleg dafür, über kaum jemanden so viel gesprochen wie über diejenigen, die aus konservati­ver oder rechter Position heraus klagen, man könne nichts sagen. Ich weiß nicht, ob ihnen bestellte Artikel abgelehnt worden sind, das ist mir zweimal passiert. Es gibt schon die Schwierigk­eiten, bestimmte Themen ausgewogen­er in der Öffentlich­keit zu diskutiere­n, aber dieses Gejammere kommt mir allmählich wie ein PRTrick vor, um mehr Aufmerksam­keit auf sich selbst zu lenken.

Haben Uwe Tellkamp, Peter Handke oder Saša Stanišic Sie angesproch­en, nachdem Sie in Ihrem Roman „Die rechtschaf­fenden Mörder“ironisch auf sie angespielt haben?

Oh, habe ich ironisch auf sie angespielt? Angesproch­en haben sie mich jedenfalls nicht. Das heißt, Saša hat mir auf Hiddensee, als ich nach ihm im Sommer für ein paar Tage in das Gerhart-Hauptmann-Haus einzog, seine Grüße auf eine Büchse mit Bohnen geklebt, die war sehr gut. Da muss ich mich noch bedanken.

Ab und zu setzten Sie sich in die Vorlesunge­n Ihrer Frau Jutta Müller-Tamm, die an der FU Berlin Neuere deutsche Literatur unterricht­et. Sie selbst sprachen mal von „Nachhilfeu­nterricht für einen Schriftste­ller“. Was können Sie von ihr lernen?

Man kann ja nie genug wissen, sich nie bewusst genug einer Sache sein. Ich liebe auch die Anstrengun­g des Begriffs, die ich selbst nicht so leisten kann. Für mich ist das alles anregend, ob das Hinweise auf Autoren und Bücher sind oder die Analyse einer Szene. Letzteres kann auch eine Art Lehrbuch für das eigene Schreiben sein. Und die Literatur ist ein Ozean, allein schon die deutschspr­achige. Wenn man da herumschwi­mmt, ist ein Boot in der Nähe noch dazu mit Radar nicht schlecht.

Wer von Ihnen beiden liest mehr?

Eindeutig sie. Aber sie vieles lesen, zum Beispiel meine Manuskript­e. Ich bin etwas freier in meiner Wahl.

Und wer hat den besseren Literatur-Geschmack?

Sie natürlich. Denn das meiste, was ich schreibe, gefällt ihr.

 ?? FOTO: ANNETTE RIEDL/DPA ?? Der Schriftste­ller Ingo Schulze in seiner Wohnung in Charlotten­burg. Der gebürtige Dresdner lebt seit Mitte der 90er-Jahre in Berlin.
FOTO: ANNETTE RIEDL/DPA Der Schriftste­ller Ingo Schulze in seiner Wohnung in Charlotten­burg. Der gebürtige Dresdner lebt seit Mitte der 90er-Jahre in Berlin.

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