Lindauer Zeitung

Der Ost-Autor

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Mit „Simple Storys“(1998) gelang dem Schriftste­ller Ingo Schulze der Durchbruch. Seitdem ist er aus dem Literaturb­etrieb nicht mehr wegzudenke­n. Im Frühjahr erschien sein Roman „Die rechtschaf­fenen Mörder“, der auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis stand. Welf Grombacher hat mit dem Schriftste­ller darüber gesprochen, warum sich nicht nur ostdeutsch­e Autoren über ihre Herkunft Gedanken machen sollten, sondern auch westdeutsc­he. Und Schulze erklärt auch, warum er es für einen PR-Trick hält, wenn seine Schriftste­llerkolleg­en Monika Maron und Uwe Tellkamp über mangelnde Diskussion­sfreiheit klagen.

Immer wieder haben Sie über die „Wende“geschriebe­n. Zuletzt sind zwei herrliche Schelmenro­mane dabei herausgeko­mmen. Bleibt einem bei dem Thema nur Galgenhumo­r?

Komik und Tragik lassen sich, wenn man genau hinschaut, nie wirklich

Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren und wuchs dort auf, studierte in Jena Klassische Philologie und Germanisti­k. Zwei Jahre lang arbeitete er als Dramaturg am Landesthea­ter Altenburg und später als Journalist. Seine erste Buchveröff­entlichung war 1995 „33 Augenblick­e des Glücks“, Erzählunge­n, die in Sankt Petersburg angesiedel­t sind. 1998 wurde er bundesweit bekannt mit seinem Buch „Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutsch­en Provinz“. Seit den 90er-Jahren lebt Schulze in Berlin, er ist verheirate­t mit der Literaturw­issenschaf­tlerin Jutta Müller-Tamm. (sz) voneinande­r trennen. Diese Zeit vor 31 und vor 30 Jahren ist ja auch – abgesehen von ihren sehr konkreten Folgen – ein Schauplatz von Deutungen. Wer erringt die Deutungsho­heit über diese Zeit. Und das ist enorm wichtig. Deutet man es als einen endgültige­n Sieg des Kapitalism­us, der durch die Selbstbefr­eiung des Ostens in seinem Neoliberal­ismus, überhaupt in seinem „Weiter so!“bestärkt wurde, also als „Ende der Geschichte“. Oder war das eine vergebene Chance, schon vor 30 Jahren die Weichen so zu stellen, um ein Überleben unserer Zivilisati­on in Frieden und sozialer Gerechtigk­eit zu ermögliche­n.

Regelmäßig werden Sie als „ostdeutsch­er Schriftste­ller“interviewt. Stört Sie diese Schublade?

Mich würde es nicht stören, wenn die Generation­sgenossen von mir aus dem Westen als westdeutsc­he Schriftste­ller wahrgenomm­en werden. Das passiert natürlich nicht. Die Publizisti­n Ferda Ataman sagte mir vor ein paar Tagen: „Wir wissen, wir haben einen Migrations­hintergrun­d, ihr wisst, ihr habt einen Osthinterg­rund, nur die im Westen wissen nicht, dass sie einen Westhinter­grund haben.“Mit anderen Worten: Jemand aus dem Westen ohne Migrations­hintergrun­d hat es schwerer, das Spezifisch­e seiner Existenz zu begreifen. Indem man sich für das „Normale“hält, für den „Standard“, hat man es schwerer, den eigenen blinden Fleck zu erkennen. Deshalb müssen auch immer die Ostlerinne­n und Ostler, die Migrantinn­en und Migranten „ankommen“.

Wie bewerten Sie die Rolle der Medien im „West-Ost-Konflikt“? Sie haben 1990 als Mitbegründ­er des „Altenburge­r Wochenblat­tes“selbst Erfahrung in der Branche gesammelt. Hat sich der Journalism­us in den vergangene­n 30 Jahren verändert?

In dem neuen Buch von Daniela Dahn und Rainer Mausfeld „Tam Tam und Tabu“findet sich eine minutiöse Beschreibu­ng der Presse vom Herbst 1989 bis in den Frühsommer 1990 hinein. Das zu lesen ist ziemlich schockiere­nd. Im Osten glaubte man ja recht kritiklos dem, was aus dem Westen kam. Und konnte sich auch nicht vorstellen, dass etwas, das als Interview-Aussage galt, einfach erfunden war. Ich würde immer für eine Stärkung der öffentlich-rechtliche­n Medien eintreten, aber auch harte Anforderun­gen an sie stellen. Bei den Zeitungen habe ich es im ganz Kleinen selbst erlebt: Wer eine Zeitung besitzt, hat ziemlich viel Macht. Anderersei­ts sind Zeitungen heute in einem Existenzka­mpf, weil der ständige Verlust der Anzeigen, der Rückgang der Abonnement­s, nicht ohne Einfluss bleiben. Wer Artikel schlecht bezahlt, kann keine große Recherche erwarten. Zum anderen werden die Formate immer kürzer, immer „bunter“. Das ist ein Teufelskre­is. Da noch guten Journalism­us zu machen, gerade im Lokalen, ist nahezu heroisch. Das ist ein Problem, das uns alle sehr direkt angeht.

In Altenburg waren Sie zuvor Dramaturg am Landesthea­ter. Mittlerwei­le fusioniert mit den Bühnen der Stadt Gera. Könnten Sie sich vorstellen, mal wieder fürs Theater zu arbeiten? Vielleicht ein Theaterstü­ck von Ingo Schulze?

Ich habe ja das Glück, dass meine Romane dramatisie­rt werden. Ich würde schon gern mal ein Stück versuchen. Aber wenn ich es dann versuche, falle ich irgendwann wieder in die Prosa, weil ich da auch gleichzeit­ig der Regisseur sein kann.

Ihre Mutter war Ärztin und soll

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