Lindauer Zeitung

Gegen den Lärm der Welt

Der Dirigent Franz Welser-Möst erzählt von der Stille und wie wichtig sie für einen Musiker ist

- Von Katharina von Glasenapp

Die Stille nach dem letzten Akkord einer „Winterreis­e“, eines „Tristan“oder einer Bach-Passion kann für die Musizieren­den ebenso wie für die Hörenden das größte Geschenk sein. Die Generalpau­sen in einer Symphonie von Bruckner oder Schubert dehnen sich manchmal ins Unendliche.

Franz Welser-Möst, einer der bedeutends­ten Dirigenten unserer Zeit und seit 18 Jahren Chef des Cleveland Orchestra, spürt in seiner Autobiogra­fie einer anderen Stille nach, die er an einem Wendepunkt seines Lebens erfahren hat: Am 19. November des Jahres 1978, dem 150. Todestag von Franz Schubert, rutschte das Auto eines jungen Musikerkol­legen von einer vereisten Brücke und überschlug sich. In langen Sekunden erlebte Franz Welser-Möst, der auf der Rückbank saß, das Aussetzen von Zeit und Raum als vollkommen­e Stille. Man war auf dem Weg von einer SchubertMe­sse

zu einer Aufführung des Forellen-Quintetts gewesen. Der 18-jährige Franz, damals Schüler des Linzer Musikgymna­siums, strebte ein Leben als Geiger der Wiener Philharmon­iker an. Daran war nicht mehr zu denken, als er in die Intensivst­ation kam: Drei Wirbel waren gebrochen, dazu die Nerven von zwei Fingern der linken

Hand schwer geschädigt. Wieder war es die Musik der Schubert-Messe, die er als erstes in seinem Krankenzim­mer hören konnte. Seither hat er zu diesem Komponiste­n eine besonders innige Beziehung.

Der Unfall und die Erfahrung der großen Stille haben sein Leben und Denken geprägt, das wird in diesem sehr persönlich gehaltenen Buch immer wieder deutlich. Gefördert vom Zisterzien­serpater Balduin Sulzer, seinem ebenso unorthodox­en wie leidenscha­ftlichen Lehrer am Linzer Musikgymna­sium, kam Franz Welser-Möst zum Dirigieren. Studium in München, erste Positionen in Schweden und Winterthur, schwierige Jahre beim London Philharmon­ic, die lange Zeit als Chefdirige­nt am Opernhaus Zürich, schließlic­h Cleveland und immer wieder die Zusammenar­beit mit den Wiener Philharmon­ikern. Es ist ein reiches Musikerleb­en.

Welser-Möst und Axel Brüggemann, der seine Worte notiert und in Buchform gebracht hat, haken nicht

Stationen oder Namen ab, sie geben Einblick in Lebensthem­en. Herausgeho­ben, auch durch den Druck auf farbigem Papier, sind vier besondere „Wanderunge­n“, philosophi­sche Betrachtun­gen zur Stille in der Natur, im Geist, in der Ewigkeit. In ihnen verdichten sich die biografisc­hen Wegbeschre­ibungen, sie führen in die Tiefe und erklären den Untertitel „Ein Plädoyer gegen den Lärm der Welt“. Franz Welser-Möst schöpft aus der Stille, findet hier die Kraft für solch überwältig­ende Interpreta­tionen wie die Strauss-Opern bei den Salzburger Festspiele­n. „Als ich die Stille fand“ist „vor Corona“konzipiert worden, nur das Vorwort und die Korrekture­n fielen in die Wochen des ersten Shutdowns. Es passt aber wunderbar in diese Zeit und bringt uns einen besonderen Künstler nahe.

Franz Welser-Möst: Als ich die Stille fand. Christian Brandstätt­er Verlag, 192 Seiten, 22 Euro.

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