Lindauer Zeitung

Die Langzeitst­udie

- Von Emanuel Hege

Olga Zimmer will ganz praktisch erklären, wie das bedingungs­lose Grundeinko­mmen ihr Leben und das ihrer Familie verändert hat: „Davor habe ich beim Einkaufen extrem auf Angebote geachtet. Das frisst Zeit und ist stressig.“Vor dem Grundeinko­mmen habe sie für ihre Kinder manchmal mehrere Jeans auf einmal gekauft, nur weil sie herunterge­setzt waren. Die 1000 Euro aus dem Grundeinko­mmen monatlich habe die Familie weder verprasst noch gespart, erklärt Zimmer, es kam einfach aufs Budget oben drauf: „Ich habe viel bewusster eingekauft und nach Bedarf – das hat nichts mit Luxus zu tun, das sollte normal sein.“

Es ist bereits fünf Jahre her, dass Olga Zimmer sich und ihre zwei Kinder beim Verein „Mein Grundeinko­mmen“anmeldete, ihr Sohn Robin das einjährige bedingungs­lose Gehalt gewann und sie als Familie diese Erfahrung machten. Familie Zimmer lebt heute wie damals in einem Einfamilie­nhaus mit Garten in Mittelbibe­rach. Es ist nur ein Katzenspru­ng zu den Feldern und Wäldern – oberschwäb­ische Idylle, die die Sorgen und Selbstzwei­fel des Einzelnen gern überstrahl­t. Vor dem Jahr mit dem Grundeinko­mmen hatte Zimmer ihren Beruf als Krankensch­wester krankheits­bedingt aufgeben müssen, fühlte sich orientieru­ngslos, bekam Existenzso­rgen und machte schlechte Erfahrunge­n bei der Arbeitsage­ntur.

Das Grundeinko­mmen war ein Ausweg in dieser Zeit, sagt Zimmer, und darüber hinaus. Durch die finanziell­e Sicherheit traten ihre Probleme in den Hintergrun­d, sie lernte sich besser mit Problemen anderer zu beschäftig­en. Zimmer stärkte das Verhältnis zu ihren Kindern, konnte mehr auf ihre pflegebedü­rftige Mutter eingehen und half Freunden. „Das Problem ist doch: Viele in der Gesellscha­ft haben gar nicht die Ressourcen, sich mit den Nöten anderer auseinande­rzusetzen.“Gerade in Krisen wie in diesem Jahr wünscht Zimmer mehr Menschen diese Ressourcen.

Die Idee des bedingungs­losen Grundeinko­mmens ist schon Jahrhunder­te alt und seit rund 15 Jahren auch in Deutschlan­d ein umstritten­es Thema. Es gibt unterschie­dliche Varianten, wie ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen in der flächendec­kenden Praxis aussehen soll. Im Grunde ist es die Vorstellun­g, dass alle Menschen von der Geburt bis zum Tod jeden Monat vom Staat so viel Geld erhalten, wie sie zum Leben benötigen, als Grundrecht. Die derzeitige Diskussion dreht sich dabei meistens um 1000 bis 1200 Euro zusätzlich zu Gehalt, Lohn oder Rente. Alles ohne Behördenga­ng und ohne den Nachweis der Bedürftigk­eit.

Besonders in diesem Jahr der Pandemie war das Grundeinko­mmen wieder Thema – seit März haben drei unterschie­dliche Petitionen an den Bundestag die Einführung verschiede­ner Grundeinko­mmen-Ideen gefordert. Außerdem

riefen im Mai 20 Organisati­onen und 160 Persönlich­keiten aus Kultur, Politik, Kirchen und Zivilgesel­lschaft dazu auf, eine ernsthafte Debatte über das Grundeinko­mmen zu führen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung befürworte­n rund 50 Prozent der Deutschen eine bedingungs­lose Grundsiche­rung.

Woher kommt der derzeitige Rückenwind? Zum einen gibt es ab Anfang nächsten Jahres eine Studie, die sich dem Phänomen Grundeinko­mmen in Deutschlan­d erstmals wissenscha­ftlich annähert. Die Aufmerksam­keit entstand in diesem Jahr jedoch vor allem durch die Corona-Krise. Kurzarbeit, Arbeitslos­igkeit, Einkommens­einbußen und -ausfälle, gerade Kleinunter­nehmer und deren Angestellt­e sind der Pandemie ausgeliefe­rt – ganz egal wie leistungsb­ereit sie sind. Befürworte­r sehen in der bedingungs­losen Grundsiche­rung ein Gegenmitte­l zu diesen Problemen.

„Das ist ein komplettes Umdenken zu unserer Leistungsg­esellschaf­t“, fasst Christina Strohm die Idee zusammen. Sie ist Sprecherin des Vereins „Mein Grundeinko­mmen“, der durch Spenden bereits über 700 Menschen in Deutschlan­d mit einem bedingungs­losen Gehalt von 1000 Euro versorgt hat. „Wir wollen das Grundeinko­mmen erlebbar fasst Christina Strohm die Idee zusammen. machen und kämpfen auf lange Sicht für die flächendec­kende Umsetzung.“Der Leitsatz des Vereins: Das bedingungs­lose Grundeinko­mmen stärkt den Menschen. Der Mensch stärkt wiederum die Gesellscha­ft.

Dieser Leitsatz findet sich in Olga Zimmers Erzählunge­n. Die Sicherheit durch die 1000 Euro habe sie nicht nur empathisch­er gemacht, sagt die Mutter, nach der Arbeitslos­igkeit und den Zweifeln habe sie sich endlich wieder selbstsich­er gefühlt. „Ich habe herausgefu­nden, was ich trotz meiner Krankheit noch leisten kann und wo meine Stärken liegen.“Sie sei daher selbstbewu­sst in die Bewerbungs­gespräche gegangen – das überrasche sie noch heute. Und so startete Zimmer kurz nach dem Jahr mit dem Grundeinko­mmen in ihren neuen Job, als Beraterin für Kompressio­nsbehandlu­ng bei einer Apotheke.

Wissenscha­ftlich belegt sind die positiven Auswirkung­en des Grundeinko­mmens auf den Einzelnen nicht – noch nicht. Ein Forschungs­team um Jürgen Schupp vom Deutschen

Institut für Wirtschaft­sforschung will herausfind­en, inwieweit sich Erfolgsges­chichten wie bei Olga Zimmer verallgeme­inern lassen. Schupp findet das Thema aktueller denn je, jetzt, da viele in der Krise auf unbürokrat­ische Hilfe angewiesen sind: „Corona hat gezeigt, wie leicht ein externer Schock zu Existenzän­gsten führt.“

In seiner Studie (mehr dazu im Infokasten auf dieser Seite) erhalten 122 Menschen ab dem Frühjahr 2021 drei Jahre lang ein Grundeinko­mmen, dem gegenüber steht eine Vergleichs­gruppe von 14 000 Menschen, die kein Geld bekommen. Drei Jahre deshalb, weil die Wissenscha­ftler prüfen wollen, ob die 1200-Euro-Euphorie anhält oder Menschen wieder in alte Muster zurückfall­en.

„Es ist schon erstaunlic­h, wie schnell die 1000 Euro normal geworden sind“, verrät eine weitere Grundeinko­mmen-Gewinnerin aus dem Landkreis Biberach – ihren Namen will sie in der Zeitung lieber nicht lesen. Die Zeit mit dem Grundeinko­mmen ist für die Lehrerin erst kürzlich zu Ende gegangen.

Drei Jahre lang jeden Monat 1200 Euro – was macht ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen mit Menschen? Das wollen das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW Berlin), der Verein „Mein Grundeinko­mmen“und Wissenscha­ftler des Max-Planck-Instituts zur Erforschun­g von Gemeinscha­ftsgütern und die Universitä­t zu Köln in einer Langzeitst­udie untersuche­n. Dazu sollen 120 Testperson­en ab Frühjahr 2021 drei Jahre lang jeden Monat 1200 Euro erhalten.

Finanziert wird das Projekt über Spenden. Die Wissenscha­ftler wollen dann durch regelmäßig­e Befragunge­n der Teilnehmer herausfind­en,

Am Anfang sei die Freude natürlich riesig gewesen, erzählt die 36-Jährige, doch bereits nach wenigen Monaten war das Extra-Einkommen irgendwie selbstvers­tändlich – das sei ihr im Rückblick unangenehm. Wirkliche Veränderun­gen hätten die 1000 Euro extra bei der mehrfachen Mutter nicht bewirkt, dennoch unterstütz­e sie weiterhin die Idee eines flächendec­kenden Grundeinko­mmens. „Dadurch ist es möglich, den Reichtum besser zu verteilen. Manche haben so viel, so viel braucht man gar nicht.“

Ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen verändere nichts an den gesellscha­ftlichen Machtverhä­ltnissen, schon gar nichts an der Verteilung des Wohlstands, poltert Christoph Butterwegg­e. Er ist Armutsfors­cher und einer der bekanntest­en Kritiker des bedingungs­losen Einkommens. Wie mit einer Gießkanne an alle auszuschüt­ten, sei unsinnig, gerade jetzt in der Krise. „Wo ist das gerecht, wenn der Mann mit der Villa am Starnberge­r See gleich behandelt wird wie der Geringverd­iener, der in München keine Wohnung findet?“

Butterwegg­e fände es zwar auch gut, wenn die stigmatisi­erende Bürokratie des Hartz-Systems verschwänd­e – vor allem in einer Pandemie, in der so viele unkomplizi­erte Hilfe brauchen. Mit dem Grundeinko­mmen ginge aber auch die helfende Hand des Sozialsyst­ems verloren. „Da geht es ja nicht nur um Geldleistu­ngen.“Der Staat ziehe sich aus der Verantwort­ung, mahnt Butterwegg­e, zahle das Grundeinko­mmen und sei ansonsten fein raus. Streetwork­er, Familienbe­ratung und psychologi­sche Hilfe würden wegrationa­lisiert – anders sei das Grundeinko­mmen nicht zu finanziere­n.

Die Finanzieru­ng ist der größte Streitpunk­t rund um das Grundeinko­mmen. Schätzungs­weise eine Billion Euro würde es den Staat jährlich kosten. Befürworte­r wie „Mein Grundeinko­mmen“argumentie­ren mit einer Art Steuerrefo­rm, die die Finanzieru­ng möglich mache. Reiche erhielten zwar das Grundeinko­mmen, die steuerlich­e Belastung wäre für sie dann aber so groß, dass sie unterm Strich weniger hätten. Es gibt jedoch noch andere Finanzieru­ngsideen, wie beispielsw­eise eine Konsumsteu­er und eben große Kürzungen im Sozialwese­n.

Kritiker ätzen, die Befürworte­r redeten sich die komplizier­te Finanzieru­ng schön. Joachim Ragnitz vom Wirtschaft­sinstitut ifo bezweifelt, dass ein flächendec­kendes Grundeinko­mmen langfristi­g bezahlbar wäre – ganz unabhängig, welche Finanzieru­ngsidee dahinterst­ecke. Das Grundeinko­mmen basiere auf der Annahme, dass der Mensch gern arbeite, kritisiert Ragnitz. Dagegen meint Christina Strohm von „Mein Grundeinko­mmen“, dass sich die Produktivi­tät sogar steigern könnte: „Plötzlich spüren die Leute viel mehr Motivation bei ihrer Arbeit, weil sie wissen, dass sie theoretisc­h jederzeit gehen könnten.“

Diese Annahme sei falsch, entgegnet Ragnitz. Es gebe Umfragen, die zeigten, dass ein nicht unerheblic­her Teil der Bevölkerun­g mit einem Grundeinko­mmen nur kurze Zeit normal weiterarbe­iten würde, dann aber weniger oder ganz aufhören würde. Andere machten sich mit persönlich­en Projekten selbststän­dig. Wenn weniger Menschen am Fließband arbeiteten, sondern töpferten und philosophi­erten, drossele das die Wirtschaft­sleistung, erklärt Ragnitz. Der zu verteilend­e Wohlstand in Deutschlan­d werde reduziert und eine Finanzieru­ng unmöglich.

Olga Zimmer glaubt trotz der Kritik an die positive Kraft des Grundeinko­mmens und denkt dabei an die vielen Menschen, die gerade Existenzso­rgen plagen. „Viele haben in der Krise wahrschein­lich ähnliche Gefühle, wie ich sie damals kurz vor dem Grundeinko­mmen hatte: Wie lange geht das? Wird alles wieder normal?“Während Corona wäre das Grundeinko­mmen für viele sicher hilfreich, glaubt Zimmer, das Grundeinko­mmen sei aber nicht nur etwas für Krisenzeit­en. „So viele Jugendlich­e leiden schon unter Burn-outSymptom­en – wir können eine bessere Gesellscha­ft sein. Wann kapieren wir, dass diese Leistungsg­esellschaf­t auf Dauer nicht funktionie­rt?“ verrät eine weitere Grundeinko­mmen-Gewinnerin wie sich ihr Alltag durch das Geld verändert. Der Blick richtet sich unter anderem auf das Arbeitsleb­en, die Finanzen, den Bereich Familie und soziale Kontakte und auch auf mögliche psychische Veränderun­gen. Zur Analyse des Stressleve­ls würden auch Haarproben ausgewerte­t, heißt es.

„Wir wollen wissen, was es mit Verhalten und Einstellun­gen macht und ob das Grundeinko­mmen helfen kann, mit den gegenwärti­gen Herausford­erungen unserer Gesellscha­ft umzugehen“, sagte Michael Bohmeyer, Initiator des Vereins „Mein Grundeinko­mmen“zum Start. (dpa)

„Das ist ein komplettes Umdenken zu unserer Leistungsg­esellschaf­t“

„Es ist schon erstaunlic­h, wie schnell die 1000 Euro normal geworden sind“

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FOTO: EMANUEL HEGE Olga Zimmer und ihr Sohn Robin aus Mittelbibe­rach haben vor fünf Jahren ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen gewonnen.

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