Die Langzeitstudie
Olga Zimmer will ganz praktisch erklären, wie das bedingungslose Grundeinkommen ihr Leben und das ihrer Familie verändert hat: „Davor habe ich beim Einkaufen extrem auf Angebote geachtet. Das frisst Zeit und ist stressig.“Vor dem Grundeinkommen habe sie für ihre Kinder manchmal mehrere Jeans auf einmal gekauft, nur weil sie heruntergesetzt waren. Die 1000 Euro aus dem Grundeinkommen monatlich habe die Familie weder verprasst noch gespart, erklärt Zimmer, es kam einfach aufs Budget oben drauf: „Ich habe viel bewusster eingekauft und nach Bedarf – das hat nichts mit Luxus zu tun, das sollte normal sein.“
Es ist bereits fünf Jahre her, dass Olga Zimmer sich und ihre zwei Kinder beim Verein „Mein Grundeinkommen“anmeldete, ihr Sohn Robin das einjährige bedingungslose Gehalt gewann und sie als Familie diese Erfahrung machten. Familie Zimmer lebt heute wie damals in einem Einfamilienhaus mit Garten in Mittelbiberach. Es ist nur ein Katzensprung zu den Feldern und Wäldern – oberschwäbische Idylle, die die Sorgen und Selbstzweifel des Einzelnen gern überstrahlt. Vor dem Jahr mit dem Grundeinkommen hatte Zimmer ihren Beruf als Krankenschwester krankheitsbedingt aufgeben müssen, fühlte sich orientierungslos, bekam Existenzsorgen und machte schlechte Erfahrungen bei der Arbeitsagentur.
Das Grundeinkommen war ein Ausweg in dieser Zeit, sagt Zimmer, und darüber hinaus. Durch die finanzielle Sicherheit traten ihre Probleme in den Hintergrund, sie lernte sich besser mit Problemen anderer zu beschäftigen. Zimmer stärkte das Verhältnis zu ihren Kindern, konnte mehr auf ihre pflegebedürftige Mutter eingehen und half Freunden. „Das Problem ist doch: Viele in der Gesellschaft haben gar nicht die Ressourcen, sich mit den Nöten anderer auseinanderzusetzen.“Gerade in Krisen wie in diesem Jahr wünscht Zimmer mehr Menschen diese Ressourcen.
Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ist schon Jahrhunderte alt und seit rund 15 Jahren auch in Deutschland ein umstrittenes Thema. Es gibt unterschiedliche Varianten, wie ein bedingungsloses Grundeinkommen in der flächendeckenden Praxis aussehen soll. Im Grunde ist es die Vorstellung, dass alle Menschen von der Geburt bis zum Tod jeden Monat vom Staat so viel Geld erhalten, wie sie zum Leben benötigen, als Grundrecht. Die derzeitige Diskussion dreht sich dabei meistens um 1000 bis 1200 Euro zusätzlich zu Gehalt, Lohn oder Rente. Alles ohne Behördengang und ohne den Nachweis der Bedürftigkeit.
Besonders in diesem Jahr der Pandemie war das Grundeinkommen wieder Thema – seit März haben drei unterschiedliche Petitionen an den Bundestag die Einführung verschiedener Grundeinkommen-Ideen gefordert. Außerdem
riefen im Mai 20 Organisationen und 160 Persönlichkeiten aus Kultur, Politik, Kirchen und Zivilgesellschaft dazu auf, eine ernsthafte Debatte über das Grundeinkommen zu führen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung befürworten rund 50 Prozent der Deutschen eine bedingungslose Grundsicherung.
Woher kommt der derzeitige Rückenwind? Zum einen gibt es ab Anfang nächsten Jahres eine Studie, die sich dem Phänomen Grundeinkommen in Deutschland erstmals wissenschaftlich annähert. Die Aufmerksamkeit entstand in diesem Jahr jedoch vor allem durch die Corona-Krise. Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, Einkommenseinbußen und -ausfälle, gerade Kleinunternehmer und deren Angestellte sind der Pandemie ausgeliefert – ganz egal wie leistungsbereit sie sind. Befürworter sehen in der bedingungslosen Grundsicherung ein Gegenmittel zu diesen Problemen.
„Das ist ein komplettes Umdenken zu unserer Leistungsgesellschaft“, fasst Christina Strohm die Idee zusammen. Sie ist Sprecherin des Vereins „Mein Grundeinkommen“, der durch Spenden bereits über 700 Menschen in Deutschland mit einem bedingungslosen Gehalt von 1000 Euro versorgt hat. „Wir wollen das Grundeinkommen erlebbar fasst Christina Strohm die Idee zusammen. machen und kämpfen auf lange Sicht für die flächendeckende Umsetzung.“Der Leitsatz des Vereins: Das bedingungslose Grundeinkommen stärkt den Menschen. Der Mensch stärkt wiederum die Gesellschaft.
Dieser Leitsatz findet sich in Olga Zimmers Erzählungen. Die Sicherheit durch die 1000 Euro habe sie nicht nur empathischer gemacht, sagt die Mutter, nach der Arbeitslosigkeit und den Zweifeln habe sie sich endlich wieder selbstsicher gefühlt. „Ich habe herausgefunden, was ich trotz meiner Krankheit noch leisten kann und wo meine Stärken liegen.“Sie sei daher selbstbewusst in die Bewerbungsgespräche gegangen – das überrasche sie noch heute. Und so startete Zimmer kurz nach dem Jahr mit dem Grundeinkommen in ihren neuen Job, als Beraterin für Kompressionsbehandlung bei einer Apotheke.
Wissenschaftlich belegt sind die positiven Auswirkungen des Grundeinkommens auf den Einzelnen nicht – noch nicht. Ein Forschungsteam um Jürgen Schupp vom Deutschen
Institut für Wirtschaftsforschung will herausfinden, inwieweit sich Erfolgsgeschichten wie bei Olga Zimmer verallgemeinern lassen. Schupp findet das Thema aktueller denn je, jetzt, da viele in der Krise auf unbürokratische Hilfe angewiesen sind: „Corona hat gezeigt, wie leicht ein externer Schock zu Existenzängsten führt.“
In seiner Studie (mehr dazu im Infokasten auf dieser Seite) erhalten 122 Menschen ab dem Frühjahr 2021 drei Jahre lang ein Grundeinkommen, dem gegenüber steht eine Vergleichsgruppe von 14 000 Menschen, die kein Geld bekommen. Drei Jahre deshalb, weil die Wissenschaftler prüfen wollen, ob die 1200-Euro-Euphorie anhält oder Menschen wieder in alte Muster zurückfallen.
„Es ist schon erstaunlich, wie schnell die 1000 Euro normal geworden sind“, verrät eine weitere Grundeinkommen-Gewinnerin aus dem Landkreis Biberach – ihren Namen will sie in der Zeitung lieber nicht lesen. Die Zeit mit dem Grundeinkommen ist für die Lehrerin erst kürzlich zu Ende gegangen.
Drei Jahre lang jeden Monat 1200 Euro – was macht ein bedingungsloses Grundeinkommen mit Menschen? Das wollen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), der Verein „Mein Grundeinkommen“und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern und die Universität zu Köln in einer Langzeitstudie untersuchen. Dazu sollen 120 Testpersonen ab Frühjahr 2021 drei Jahre lang jeden Monat 1200 Euro erhalten.
Finanziert wird das Projekt über Spenden. Die Wissenschaftler wollen dann durch regelmäßige Befragungen der Teilnehmer herausfinden,
Am Anfang sei die Freude natürlich riesig gewesen, erzählt die 36-Jährige, doch bereits nach wenigen Monaten war das Extra-Einkommen irgendwie selbstverständlich – das sei ihr im Rückblick unangenehm. Wirkliche Veränderungen hätten die 1000 Euro extra bei der mehrfachen Mutter nicht bewirkt, dennoch unterstütze sie weiterhin die Idee eines flächendeckenden Grundeinkommens. „Dadurch ist es möglich, den Reichtum besser zu verteilen. Manche haben so viel, so viel braucht man gar nicht.“
Ein bedingungsloses Grundeinkommen verändere nichts an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, schon gar nichts an der Verteilung des Wohlstands, poltert Christoph Butterwegge. Er ist Armutsforscher und einer der bekanntesten Kritiker des bedingungslosen Einkommens. Wie mit einer Gießkanne an alle auszuschütten, sei unsinnig, gerade jetzt in der Krise. „Wo ist das gerecht, wenn der Mann mit der Villa am Starnberger See gleich behandelt wird wie der Geringverdiener, der in München keine Wohnung findet?“
Butterwegge fände es zwar auch gut, wenn die stigmatisierende Bürokratie des Hartz-Systems verschwände – vor allem in einer Pandemie, in der so viele unkomplizierte Hilfe brauchen. Mit dem Grundeinkommen ginge aber auch die helfende Hand des Sozialsystems verloren. „Da geht es ja nicht nur um Geldleistungen.“Der Staat ziehe sich aus der Verantwortung, mahnt Butterwegge, zahle das Grundeinkommen und sei ansonsten fein raus. Streetworker, Familienberatung und psychologische Hilfe würden wegrationalisiert – anders sei das Grundeinkommen nicht zu finanzieren.
Die Finanzierung ist der größte Streitpunkt rund um das Grundeinkommen. Schätzungsweise eine Billion Euro würde es den Staat jährlich kosten. Befürworter wie „Mein Grundeinkommen“argumentieren mit einer Art Steuerreform, die die Finanzierung möglich mache. Reiche erhielten zwar das Grundeinkommen, die steuerliche Belastung wäre für sie dann aber so groß, dass sie unterm Strich weniger hätten. Es gibt jedoch noch andere Finanzierungsideen, wie beispielsweise eine Konsumsteuer und eben große Kürzungen im Sozialwesen.
Kritiker ätzen, die Befürworter redeten sich die komplizierte Finanzierung schön. Joachim Ragnitz vom Wirtschaftsinstitut ifo bezweifelt, dass ein flächendeckendes Grundeinkommen langfristig bezahlbar wäre – ganz unabhängig, welche Finanzierungsidee dahinterstecke. Das Grundeinkommen basiere auf der Annahme, dass der Mensch gern arbeite, kritisiert Ragnitz. Dagegen meint Christina Strohm von „Mein Grundeinkommen“, dass sich die Produktivität sogar steigern könnte: „Plötzlich spüren die Leute viel mehr Motivation bei ihrer Arbeit, weil sie wissen, dass sie theoretisch jederzeit gehen könnten.“
Diese Annahme sei falsch, entgegnet Ragnitz. Es gebe Umfragen, die zeigten, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung mit einem Grundeinkommen nur kurze Zeit normal weiterarbeiten würde, dann aber weniger oder ganz aufhören würde. Andere machten sich mit persönlichen Projekten selbstständig. Wenn weniger Menschen am Fließband arbeiteten, sondern töpferten und philosophierten, drossele das die Wirtschaftsleistung, erklärt Ragnitz. Der zu verteilende Wohlstand in Deutschland werde reduziert und eine Finanzierung unmöglich.
Olga Zimmer glaubt trotz der Kritik an die positive Kraft des Grundeinkommens und denkt dabei an die vielen Menschen, die gerade Existenzsorgen plagen. „Viele haben in der Krise wahrscheinlich ähnliche Gefühle, wie ich sie damals kurz vor dem Grundeinkommen hatte: Wie lange geht das? Wird alles wieder normal?“Während Corona wäre das Grundeinkommen für viele sicher hilfreich, glaubt Zimmer, das Grundeinkommen sei aber nicht nur etwas für Krisenzeiten. „So viele Jugendliche leiden schon unter Burn-outSymptomen – wir können eine bessere Gesellschaft sein. Wann kapieren wir, dass diese Leistungsgesellschaft auf Dauer nicht funktioniert?“ verrät eine weitere Grundeinkommen-Gewinnerin wie sich ihr Alltag durch das Geld verändert. Der Blick richtet sich unter anderem auf das Arbeitsleben, die Finanzen, den Bereich Familie und soziale Kontakte und auch auf mögliche psychische Veränderungen. Zur Analyse des Stresslevels würden auch Haarproben ausgewertet, heißt es.
„Wir wollen wissen, was es mit Verhalten und Einstellungen macht und ob das Grundeinkommen helfen kann, mit den gegenwärtigen Herausforderungen unserer Gesellschaft umzugehen“, sagte Michael Bohmeyer, Initiator des Vereins „Mein Grundeinkommen“zum Start. (dpa)
„Das ist ein komplettes Umdenken zu unserer Leistungsgesellschaft“
„Es ist schon erstaunlich, wie schnell die 1000 Euro normal geworden sind“