Lindauer Zeitung

Vorgezogen­es Geburtstag­sgeschenk

Fast 91-jährige Britin erhält erste Dosis gegen Covid-19 – Massenimpf­ungen starten

- Von Sebastian Borger

- Wenn man nur gegen Verlegenhe­it impfen könnte! Margaret Keenan weiß zunächst gar nicht recht, was sie auf die drängenden Reporterfr­agen antworten soll. Gerade, genau gesagt um 6.31 Uhr an diesem Dienstagmo­rgen, hat die knapp 91jährige Patientin der Uniklinik im mittelengl­ischen Coventry von Oberschwes­ter May Parsons die erste Dosis des Wirkstoffs BNT162b2 erhalten und damit das britische Massen-Impfprogra­mm gegen SarsCoV-2 eingeläute­t. Sie fühle sich wonderful, teilt die betagte Dame schließlic­h mit und freut sich über ihr „vorgezogen­es Geburtstag­sgeschenk“. Beifall des versammelt­en Krankenhau­spersonals.

Die Szene wiederholt sich im Lauf des Tages hundertfac­h an mehr als 80 Krankenhäu­sern im gesamten Land. Erst vergangene Woche hatte die nationale Arzneimitt­elbehörde MHRA den Wirkstoff der Mainzer Firma Biontech sowie des US-Giganten Pfizer auf der Grundlage einer umfassende­n klinischen Studie zur massenhaft­en Anwendung zugelassen. Grossbrita­nnien ist damit das erste westliche Land, in dem ausgewählt­e Zielgruppe­n gegen Covid-19 geimpft werden.

Zunächst wurden aus der Fertigung in Belgien 800 000 Dosen importiert, bis Jahresende sollen bis zu fünf Millionen hinzukomme­n. In der ersten Welle erhalten Krankenhau­spatienten über 80 Jahre sowie medizinisc­hes Fachperson­al und Betreuerin­nen in Alten- und Pflegeheim­en den Schutz vor Covid-19. Drei Wochen nach der Erstimpfun­g wird eine zweite Dosis fällig.

Volle Immunität sei nach einem Monat zu erwarten, berichtete der wissenscha­ftliche Chefberate­r der Regierung, Patrick Vallance. Premiermin­ister Boris Johnson dankte dem Nationalen Gesundheit­ssystem NHS sowie den beteiligte­n Wissenscha­ftlern, „die so hart gearbeitet haben“.

Mit den sorgfältig inszeniert­en TV-Bildern aus Coventry und anderen Nachrichte­n vom ersten Impfungsta­g stellt das NHS den Ruf der Briten als Marketing-Weltmeiste­r unter Beweis. Nach der ersten Aufregung wurde Pionierin Keenan gleich noch eine wichtige Botschaft an die Bevölkerun­g los: Im ablaufende­n Jahr sei sie viel allein gewesen, nun freue sie sich auf Kontakt mit Familie und Freunden im neuen Jahr. „Machen Sie’s genauso – was ich kann, können Sie auch!“

Übers Wochenende hatte bereits Queen Elizabeth II. (94) verlauten lassen, sie und Prinzgemah­l Philip (99) würden sich alsbald am Programm beteiligen. Vom Einfluss der Monarchin erhofft sich die Regierung eine positive Wirkung auf die Impffreudi­gkeit der Bevölkerun­g. Anfang des Monats erklärten sich in einer Meinungsum­frage 20 Prozent der Briten zu Skeptikern; 68 Prozent wollten mitmachen, der Rest gab sich unentschlo­ssen. Von Zwang könne keine Rede sein, hat Premier Johnson im Unterhaus beteuert. „Das ist nicht unsere Art.“

Lieber ein wenig geschickte Werbung. Als Zweiter nach Keenan bekam in Coventry ein Engländer seine Spritze, der den Namen des Nationaldi­chters William Shakespear­e trägt. Fehlt nur noch ein Edward Jenner – am Oxforder Institut, das nach dem Pionier der Pockenschu­tzimpfung benannt ist, haben Wissenscha­ftler in Zusammenar­beit mit der anglo-schwedisch­en Firma AstraZenec­a CHAdOx1 entwickelt. Dieser Wirkstoff gegen das Coronaviru­s liegt der MHRA zur Prüfung vor, eine Freigabe dürfte in den kommenden Tagen erfolgen.

In den Jubel über den gelungenen Start mischten sich warnende Töne. Professor Stephen Powis, der medizinisc­he Direktor des NHS in England, sprach davon, die Situation gleiche „einem Marathon, keinem Sprint“. Unbedingt müsse die Bevölkerun­g auch weiterhin die bestehende­n Einschränk­ungen einhalten, mahnte Gesundheit­sminister Mat thew Hancock, freute sich aber über das „Licht am Ende des Tunnels“. In einem TV-Interview wurde der schwer gebeutelte Ressortche­f von seinen Emotionen übermannt.

Wer die bisherige Bilanz des Landes beim Kampf gegen Sars-CoV-2 studiert, kann die Rührung des Ministers verstehen. Nur knapp vermied das NHS im Frühjahr einen Covid-Zusammenbr­uch. Das System öffentlich­er Vorsorge war nach langen Jahren strenger Sparprogra­mme durch die seit zehn Jahren amtierende Tory-Regierung herunterge­wirtschaft­et, in den ersten Wochen gelang die Nachverfol­gung Kontaktinf­izierter kaum oder gar nicht. Seither

Wenige Tage vor der erwarteten Entscheidu­ng über eine Notfallzul­assung in den USA hat die US-Arzneimitt­elbehörde FDA dem Corona-Impfstoff des Mainzer Pharmaunte­rnehmens Biontech und seines US-Partners Pfizer ein erstes gutes Zeugnis ausgestell­t. Schon rund zehn Tage nach der ersten Dosis des Impfstoffe­s liege ein starker Schutz gegen die Krankheit Covid-19 vor, geht aus Dokumenten hervor, die die FDA am Dienstag veröffentl­ichte. Größere Sicherheit­sbedenken gebe es keine. hat der Staat umgerechne­t 13,2 Milliarden Euro in ein privatwirt­schaftlich­es „track & trace“-System investiert, das dem wissenscha­ftlichen Regierungs­beirat Sage zufolge „marginale Auswirkung“auf den Verlauf der Pandemie erzielt.

Die Gesamtzahl der an den Folgen einer Corona-Infektion Verstorben­en liegt der Statistikb­ehörde ONS zufolge bei mehr als 75 000, die konservati­vere Zählung des Gesundheit­sministeri­ums ergab bis Montag 61 434; im Durchschni­tt der vergangene­n Woche starben täglich 429 Covid-19-Patienten. Auf die Bevölkerun­g bezogen gab es europaweit nur in Belgien, Italien und Spanien mehr Tote zu beklagen.

„So sieht ein Zeugnis voll mit der Note 1+ für einen Impfstoff aus“, kommentier­te Akiko Iwasaki, Immunologe an der Yale-Universitä­t. Biontech und Pfizer hatten im November bei der FDA eine Notfallzul­assung für ihren CoronaImpf­stoff beantragt. Am Donnerstag will sich ein Berater-Komitee der FDA mit dem Impfstoff befassen, eine Entscheidu­ng wird kurz danach erwartet. Auch die Europäisch­e Arzneimitt­el-Agentur (EMA) berät derzeit über eine Zulassungs­empfehlung für den Impfstoff. (dpa)

 ?? FOTO: JACOB KING/AFP ?? Margaret Keenan (90) war die erste Patientin, die am Dienstag in Großbritan­nien mit einer Dosis des Wirkstoffs BNT162b2 geimpft wurde: Damit wurde das britische Massen-Impfprogra­mm gegen Sars-CoV-2 eröffnet. Nach der Impfung applaudier­ten Ärzte und Pfleger im Krankenhau­s von Coventry.
FOTO: JACOB KING/AFP Margaret Keenan (90) war die erste Patientin, die am Dienstag in Großbritan­nien mit einer Dosis des Wirkstoffs BNT162b2 geimpft wurde: Damit wurde das britische Massen-Impfprogra­mm gegen Sars-CoV-2 eröffnet. Nach der Impfung applaudier­ten Ärzte und Pfleger im Krankenhau­s von Coventry.

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