Lindauer Zeitung

Bahn unter Strom macht nicht alle glücklich

Der Ausbau der Bahnstreck­e Lindau-München kostet eine halbe Milliarde Euro – Beim Umsteigen hapert es noch

- Von Frederick Mersi (dpa) und Dirk Augustin

- 155 Kilometer lang, etwa 500 Millionen Euro teuer: Am Sonntag nimmt die Bahn mit Schweizer Schnellzüg­en die elektrifiz­ierte Strecke Lindau-München in Betrieb. Das löst aber nicht alle Probleme.

„Nervosität und Vorfreude“, beschreibt Bernd Frey seine Gefühlslag­e im Cockpit des „ICEs der Schweiz“. Der 47-Jährige ist seit siebeneinh­alb Jahren Lokführer bei der Deutschen Bahn, Schnellzüg­e mit 250 Kilometern pro Stunde zu steuern, gehört für ihn zum Alltag. An den Schweizer Astoro muss er sich bei seiner Ausbildung­sfahrt wegen anders angeordnet­er Steuerelem­ente aber erst mal eingewöhne­n – zumal die Züge ab 13. Dezember planmäßig sechs Mal am Tag auf einer neuen Strecke fahren sollen.

Eurocitys von München nach Zürich wurden im Allgäu bisher von Dieselloks gezogen, die teilweise mehr als 50 Jahre alt waren. Für Lokführer bedeutete das einen lauten, dreckigen und heißen Arbeitspla­tz, für Anwohner Lärm und Abgase, für Passagiere weniger Tempo. Mit dem Fahrplanwe­chsel ändert sich das nun – mehr als 40 Jahre nach dem Vorstoß zur ersten Elektrifiz­ierung im Allgäu.

500 Millionen Euro hat der Ausbau der weitgehend eingleisig­en Strecke zwischen Geltendorf und Lindau nach Angaben der Deutschen Bahn gekostet. 3650 Masten wurden aufgestell­t, auf 155 Kilometern Länge Oberleitun­gen gespannt, Lärmschutz­wände gebaut und Kurven für die Neigetechn­ik der Schweizer Züge ertüchtigt – um zumindest ein Tempo von 160 Kilometern pro Stunde zu ermögliche­n.

Mit dem Fahrplanwe­chsel werden dadurch die Metropolen München und Zürich schneller verbunden – allerdings vorerst nicht ganz so zügig wie geplant. „Auf Schweizer Seite wird noch neue Signaltech­nik installier­t“, sagt ein BahnSprech­er. Deshalb verkürzt sich die Reisezeit von viereinhal­b vorerst nur auf rund vier Stunden. Die von der Bahn angekündig­ten dreieinhal­b Stunden schafft der EurocityEx­press planmäßig erst in einem Jahr.

Auch beim Anschluss des Regionalve­rkehrs am neuen Fernbahnho­f Lindau-Reutin müssen sich Fahrgäste noch ein Jahr gedulden. Denn die Züge vom Bodensee steuern bis zum Dezember des kommenden Jahres weiter nur den Inselbahnh­of an – nicht den neuen Halt auf dem Festland, an dem der Eurocity-Express nach München und Zürich wartet. In Reutin halten neben den Fernzügen vorerst nur die Züge zwischen Bregenz und der Lindauer Insel.

In Reutin fehlt nach Angaben der Nahverkehr­sgesellsch­aft BadenWürtt­emberg nämlich noch eine Tankstelle für die Dieselloks, die auf der Bodensee-Gürtelbahn fahren. Erst wenn auch diese Strecke der Südbahn in einem Jahr elektrifiz­iert, in Lindau der Seedamm fertig saniert ist und die neue Tankstelle steht, werde es für den Regionalve­rkehr

in Reutin Anschlüsse an die Hochgeschw­indigkeits­züge geben – und umgekehrt. Wirklich perfekt wird das Umsteigen in Lindau erst, wenn die Unterführu­ng Hasenweidw­eg-Ost und die neue Zufahrt in das Giebelbach­viertel fertig sind. Denn erst dann darf die Bahn alle Züge gemäß der angestrebt­en neuen Fahrpläne einsetzen.

Auf gute Anschlüsse müssen wegen der Elektrifiz­ierung zwischen München und Lindau ab Dezember 2021 auch Bahnfahrer aus dem südlichen Allgäu hoffen: Die Zahl direkter Verbindung­en von dort in die Landeshaup­tstadt sinkt laut Bayerische­r Eisenbahng­esellschaf­t an manchen Bahnhöfen um mehr als die Hälfte. Die Fahrgäste müssen unterwegs in eine elektrisch betriebene Bahn umsteigen – weil unter der neuen Oberleitun­g möglichst wenige Dieselzüge fahren sollen.

Obwohl die Fahrt deswegen nur wenige Minuten länger dauert und insgesamt mehr Züge ins südliche Allgäu fahren sollen, sieht der Vorsitzend­e des Regionalen Planungsve­rbands Allgäu, Stefan Bosse (CSU), diese Entwicklun­g kritisch: „Meine Sorge ist, dass die Bahn mit zusätzlich­en Umstiegen für Pendler wieder unattrakti­ver wird.“

Bosse ist Oberbürger­meister der Stadt Kaufbeuren, von wo die Bahn ab Dezember 2021 statt 45 nur noch 27 Mal direkt nach München fährt.

„Was wir jetzt brauchen, ist ein Einstieg in die Grundelekt­rifizierun­g des Allgäus“, sagt er. Als Beispiel nennt er die Strecke von Augsburg nach Buchloe, deren Ausbau über ein Förderprog­ramm für den Güterverke­hr finanziert werden könnte.

Die zweite große Elektrifiz­ierung im Allgäu könnte aber auf einer anderen Strecke anstehen: Zur Vorplanung für einen Ausbau der Illertalba­hn zwischen Ulm und Kempten hat das bayerische Verkehrsmi­nisterium Ende November rund 10,4 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Ersten Schätzunge­n zufolge könnte das Projekt selbst rund 300 Millionen Euro kosten.

Nach der Fertigstel­lung könnte die Bahn auch an der Autobahn 7 öfter Autos überholen – so wie Lokführer Bernd Frey bei seiner morgendlic­hen Ausbildung­sfahrt im Astoro nahe der A96 in Richtung Memmingen. Ein besonderer Moment? „Gerade achte ich da noch nicht drauf“, sagt er und blickt nach vorn. „Ich beobachte jetzt erst mal mein eigenes Fahrzeug.“

Stefan Bosse, Oberbürger­meister von Kaufbeuren

„Was wir jetzt brauchen, ist ein Einstieg in die Grundelekt­rifizierun­g des Allgäus.“

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ARCHIVFOTO: CHRISTIAN FLEMMING Im Herbst ist der Hochgeschw­indigkeits­zug Astoro für Test- und Ausbildung­sfahrten auf der Strecke Lindau-München unterwegs. Am Sonntag beginnt der reguläre Betrieb.
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FOTO: DPA/KARL-JOSEF HILDENBRAN­D Lokführer Bernd Frey sitzt während einer Ausbildung­sfahrt auf der neu elektrifiz­ierten Strecke München-Lindau neben einem Kollegen im Cockpit des Hochgeschw­indigkeits­zugs Astoro.

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