Lindauer Zeitung

Hunger im reichsten Land der Welt

Immer mehr US-Amerikaner haben durch Corona nicht genug zu essen – Hilfsorgan­isationen sprechen von 54 Millionen Bedürftige­n

- Von Thomas Spang

(KNA) - US-Hilfsorgan­isationen schlagen Alarm. Die Pandemie treibt die Arbeitslos­enquote in die Höhe und Millionen USAmerikan­er stehen vor Lebensmitt­elausgaben Schlange. Hunger wird für viele zur Alltagserf­ahrung.

Für Bill Blackmer änderte sich das Leben genau am 18. April. An diesem Tag verlor der Vater zweier Töchter seinen Job in der Telekommun­ikationsbr­anche. Der 41-Jährige wartete mit der Hiobsbotsc­haft bis nach dem Abendessen. Seine Frau Mary sagte kein Wort und musste sich erstmal setzen.

Die Blackmers leben in Weymouth im US-Bundesstaa­t Massachuse­tts. Mary ist behindert. Seit Jahren verdient Bill alleine das Familienei­nkommen. Jetzt bleibt nur noch das Arbeitslos­engeld aus dem „Cares Act“. Die gesparten Finanzrese­rven werden seitdem buchstäbli­ch verfrühstü­ckt. Einziger Lichtblick: der lokale ökumenisch­e Sozialdien­st „Interfaith“im Großraum Boston, der Konserven, Nudeln und Hähnchen gratis spendiert.

Nur ein Schicksal unter Millionen, mit dem die „Washington Post“dem neuen Hunger in Amerika Namen und Gesichter verlieh.

Die Fakten und Zahlen bestätigen ein Massenphän­omen. Seit Beginn der Pandemie haben sich rund sieben Millionen Amerikaner neu für das Lebensmitt­elkarten-Programm „Snap“angemeldet. Das Bundesprog­ramm bot bis dahin bereits 38 Millionen Amerikaner­n mit wenig oder gar keinem Einkommen Zuschüsse für den Erwerb von Ess- und Trinkbarem.

Noch dramatisch­er klingt die Prognose von „Feeding America“, die mit 200 Nahrungsmi­ttelbanken und 60 000 Lebensmitt­elkammern größte Hilfsorgan­isation der USA. 54 Millionen Menschen seien demnächst in der prekären Situation zu entscheide­n, ob erst die Miete bezahlt oder der Supermarkt angesteuer­t werde. Das sind 17 Millionen mehr als vor der Corona-Krise. „Etwa 40 Prozent der Empfänger waren noch nie zuvor auf Wohltätigk­eit angewiesen“, so Katie Fitzgerald von „Feeding America“.

Der Run auf Hunger-Hotlines boomt. Das US-Landwirtsc­hafts-Ministeriu­m (USDA) hilft im Netz mit einer interaktiv­en Karte bei der Suche nach Anlaufstel­len für Mahlzeiten. Genauso funktionie­rt auch das private Angebot von „FoodFinder“und der Graswurzel-Initiative „Little Free Pantry“.

Der Fotograf William Luther hat die Hungerkris­e in einer Luftaufnah­me festgehalt­en. Sie zeigt wie mehr als 10 000 Menschen auf einem Parkplatz von San Antonio im Bundesstaa­t Texas dicht gedrängt auf die Verteilung von Lebensmitt­elpaketen warteten. Ein Bild, das sich heute vielerorts in den USA so oder ähnlich machen ließe.

Der Bedarf an privater Hilfe ist so groß, dass es an Freiwillig­en für die Verteilung von Lebensmitt­eln fehlt. Die Präsidenti­n der „Greater Boston Food Bank“, Catherine D'Amato, sagt, sie habe wegen der notwendige­n sozialen Distanzier­ung nur 100 bis 150 Helfer pro Woche, die vorgeferti­gte Notratione­n packen könnten. Vor der Corona-Krise waren es dreimal so viele.

„Wir verlassen uns gerade auf private Caritas“, erklärt die Politologi­n an der Northweste­rn University, Diane Schanzenba­ch die Konsequenz­en eines löchrigen Sicherheit­snetzes des Staates. „Es liegt am Kongress, diese Löcher zu flicken.“Genau das fordern die katholisch­en US-Bischöfe seit Monaten von Trump und dem Kongress: Hilfsprogr­amme für besonders Bedürftige zu verlängern und aufzustock­en.

Doch die Verhandlun­gen über weitere Corona-Hilfen sind in Washington während der Präsidents­chaftswahl­en erlahmt. Die Konsequenz­en lassen sich an der aktuellen Statistik des Volkszählu­ngsbüros ablesen. Demnach haben fast sechs Millionen US-Haushalte mit Kindern in der Pandemie Probleme, ihre Kühlschrän­ke zu füllen. Besonders hart betroffen sind die Familien von Schwarzen und Latinos.

Die „Washington Post“veröffentl­ichte kürzlich Zahlen, die zeigen, dass Hunger in US-Haushalten heute ein größeres Thema ist als 1998, dem ersten Jahr, in dem das „US Census Bureau“Zahlen zu diesem Phänomen veröffentl­ichte. Corona und seine wirtschaft­lichen Folgen reißen jetzt auch Familien der Mittelschi­cht nach unten.

Für Bill Blackmer erwies sich der ökumenisch­e Sozialdien­st „Interfaith“als Strohhalm, an dem sich seine Familie in größter Not klammern konnte. Er nennt die Lebensmitt­elausgabe eine „reibungslo­s laufende Maschine“, ein Zufluchtso­rt im Sog der Pandemie. „Für uns sind das die wahren Helden.“

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FOTO: OLIVIER DOULIERY /AFP Ein Bild aus Baltimore: Die Freiwillig­en verteilen Nahrungsmi­ttel an Bedürftige. Immer mehr Kinder kommen morgens hungrig in die Schule.
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FOTO: LANCE CHEUNG/IMAGO IMAGES Auf einem Parkplatz in San Antonio in Texas wurde im Frühjahr vom USDA Food and Nutrition Service und der San Antonio Food Bank eine Ausgabeste­lle für Lebensmitt­el eingericht­et. Hunderte von Autos standen in der Schlange.

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