Die vergessenen Kinder
Warnung vor Sport-Lockdown: Um Risikogruppen zu schützen, werden neue geschaffen
- Mannschaftssportarten sind im Sportunterricht des Albert-Einstein-Gymnasiums in Ravensburg nicht erlaubt – „außer mal den Ball hin und her passen oder den Volleyball pritschen“, sagt Gerhard Rill – er ist Lehrer am AEG und muss sich neben dem Unterricht auch um den Infektionsschutz kümmern: Hände desinfizieren, Maske in der Umkleide und getrennte Wartebereiche vor der Halle. Der Schulsport sei derzeit der letzte intensive Bewegungsraum für Kinder und Jugendliche. „Man merkt, dass das bei vielen das Highlight der Woche ist“, sagt Gerhard Rill, „gleichzeitig ist das schon eine Katastrophe.“Denn der Schulsport könne niemals das auffangen, was normalerweise Vereinssport und andere Nachmittagsaktivitäten leisten.
Einige Politiker argumentieren, dass Breitensport während der Pandemie zweitrangig, ja sogar unwichtig sei. Und auch der Schulsport ist mittlerweile entbehrlich – das bayerische Kultusministerium teilte am Dienstag mit, dass bis Weihnachten der Sportunterricht an allen Schulen entfällt. Der Widerstand gegen diese Geringschätzung des Sports wächst, und Wissenschaftler mahnen: Der Bewegungsmangel mache Kinder und Jugendliche anfällig für Krankheiten, und das Interesse am Sport könne nachhaltig sinken – die Politik schaffe derzeit neue Risikogruppen, um die jetzigen zu schützen.
Professor Ansgar Thiel versucht, dafür Bewusstsein zu schaffen. Er ist Leiter des Instituts für Sportwissenschaft an der Universität Tübingen und Sprecher des wissenschaftlichen Forums des Württembergischen Landessportbundes – er glaubt, dass Gesellschaft, Politik und Medien die Auswirkungen des Bewegungsmangels unterschätzen. „Wenn beispielsweise Übergewicht früh auftritt, ist die Gefahr, später an chronisch-degenerativen Krankheiten zu leiden, deutlich höher.“Diabetes, HerzKreislauf-Schwächen und Krebserkrankungen seien die Folge. Aber auch Depressionen und ein geringes Selbstwertgefühl könnten durch zu wenig Bewegung entstehen. „Durch Sport entwickeln Kinder ein Selbstbewusstsein und Frusttoleranz – sie lernen, dass sie auch verlieren müssen, dass Dinge nicht einfach von der Hand gehen.“
Die Entwicklung hin zu mehr Sitzund Bildschirmzeit ist aber nicht allein auf die Pandemie zurückzuführen. Der neueste Kinder- und Jugendsportbericht der Krupp-Stiftung zeigt, dass schon vor 2020 die Bewegungszeit massiv abgenommen hat. 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen bewegen sich weniger als eine
Stunde am Tag – dabei ist gerade diese Stunde das Mindestmaß, das die Weltgesundheitsorganisation vorgibt, damit Kinder und Jugendliche gesund aufwachsen.
„Es gibt Kinder, die können mit drei Jahren schon den Hopserlauf, andere müssen das lernen“, sagt Jochen Kucera von der Kindersportschule Aktiv in Weingarten. „Der Anteil, der das erst lernen muss, wird aber immer größer.“Kucera gründete vor mehr als 30 Jahren die erste Kindersportschule Deutschlands – damals wie heute will er die motorische Schulung von Kindern durch Fachkräfte anbieten. „Die Kinder sind nicht schwächer als früher, sie bringen nur weniger aus dem Alltag mit.“Außerdem werde es schwer, die Kinder wieder dazu zu bringen, organisierten und intensiven Sport zu treiben, glaubt Ansgar Thiel. Eine Entwicklung, die auch der Bayerische Landes-Sportverband befürchtet: Die Verantwortlichen rechnen mit 100 000 Vereinsaustritten wegen Corona.
Gegenargumente wie das, dass der Zeitraum des Bewegungsmangels doch viel zu kurz sei, um Schäden anzurichten, kontert Thiel: „Kinder und Jugendliche entwickeln sich sehr schnell – und jeden Monat.“Einige Defizite seien später nicht mehr auszugleichen. Die Gegenseite relativiert die Situation außerdem, indem sie sagt, dass mehr Menschen in diesem Jahr radeln oder wandern würden. Stimmt, dieser Ausgleich sei jedoch stark an das soziale Milieu gekoppelt, sagt Thiel. Vor allem wohlhabendere Familien seien schnell auf Alternativen zum klassischen Vereinssport umgestiegen. Die Schere gehe durch die Pandemie derweil weiter auseinander: „Es gibt mehr topfitte Kinder als vor 20 Jahren – aber auch eine zunehmend größere Gruppe, die hinterher hinkt.“
Thiel klagt die Politik an, diese sei fantasielos und wisse sich nicht besser zu helfen als mit kategorischen Verboten. Thiel glaubt, man könne ein gewisses Maß an Infektionsschutz und gemeinsame Bewegung vereinen – nur die Impulse fehlten. Er nennt die Situation „das Infektionsschutzparadox“, denn die im Moment durchaus notwendigen Maßnahmen beinhalteten die Gefahr, dass Teile der Bevölkerung auf lange Sicht vermehrt chronisch-degenerative Erkrankungen entwickelten. Inklusive aller Folgen für das Gesundheitssystem.
Auch Lehrer Gerhard Rill plädiert für einen höheren Stellenwert des Sports während der Pandemie, er sieht die Entwicklungen derweil aber weniger dramatisch. Die Erfahrung aus dem Schuljahr zeige ihm, dass die Pandemie den Wunsch nach Gemeinschaft und letztendlich auch nach dem Vereinssport neu erwecke.