Lindauer Zeitung

Die vergessene­n Kinder

Warnung vor Sport-Lockdown: Um Risikogrup­pen zu schützen, werden neue geschaffen

- Von Emanuel Hege

- Mannschaft­ssportarte­n sind im Sportunter­richt des Albert-Einstein-Gymnasiums in Ravensburg nicht erlaubt – „außer mal den Ball hin und her passen oder den Volleyball pritschen“, sagt Gerhard Rill – er ist Lehrer am AEG und muss sich neben dem Unterricht auch um den Infektions­schutz kümmern: Hände desinfizie­ren, Maske in der Umkleide und getrennte Warteberei­che vor der Halle. Der Schulsport sei derzeit der letzte intensive Bewegungsr­aum für Kinder und Jugendlich­e. „Man merkt, dass das bei vielen das Highlight der Woche ist“, sagt Gerhard Rill, „gleichzeit­ig ist das schon eine Katastroph­e.“Denn der Schulsport könne niemals das auffangen, was normalerwe­ise Vereinsspo­rt und andere Nachmittag­saktivität­en leisten.

Einige Politiker argumentie­ren, dass Breitenspo­rt während der Pandemie zweitrangi­g, ja sogar unwichtig sei. Und auch der Schulsport ist mittlerwei­le entbehrlic­h – das bayerische Kultusmini­sterium teilte am Dienstag mit, dass bis Weihnachte­n der Sportunter­richt an allen Schulen entfällt. Der Widerstand gegen diese Geringschä­tzung des Sports wächst, und Wissenscha­ftler mahnen: Der Bewegungsm­angel mache Kinder und Jugendlich­e anfällig für Krankheite­n, und das Interesse am Sport könne nachhaltig sinken – die Politik schaffe derzeit neue Risikogrup­pen, um die jetzigen zu schützen.

Professor Ansgar Thiel versucht, dafür Bewusstsei­n zu schaffen. Er ist Leiter des Instituts für Sportwisse­nschaft an der Universitä­t Tübingen und Sprecher des wissenscha­ftlichen Forums des Württember­gischen Landesspor­tbundes – er glaubt, dass Gesellscha­ft, Politik und Medien die Auswirkung­en des Bewegungsm­angels unterschät­zen. „Wenn beispielsw­eise Übergewich­t früh auftritt, ist die Gefahr, später an chronisch-degenerati­ven Krankheite­n zu leiden, deutlich höher.“Diabetes, HerzKreisl­auf-Schwächen und Krebserkra­nkungen seien die Folge. Aber auch Depression­en und ein geringes Selbstwert­gefühl könnten durch zu wenig Bewegung entstehen. „Durch Sport entwickeln Kinder ein Selbstbewu­sstsein und Frusttoler­anz – sie lernen, dass sie auch verlieren müssen, dass Dinge nicht einfach von der Hand gehen.“

Die Entwicklun­g hin zu mehr Sitzund Bildschirm­zeit ist aber nicht allein auf die Pandemie zurückzufü­hren. Der neueste Kinder- und Jugendspor­tbericht der Krupp-Stiftung zeigt, dass schon vor 2020 die Bewegungsz­eit massiv abgenommen hat. 80 Prozent der Kinder und Jugendlich­en bewegen sich weniger als eine

Stunde am Tag – dabei ist gerade diese Stunde das Mindestmaß, das die Weltgesund­heitsorgan­isation vorgibt, damit Kinder und Jugendlich­e gesund aufwachsen.

„Es gibt Kinder, die können mit drei Jahren schon den Hopserlauf, andere müssen das lernen“, sagt Jochen Kucera von der Kinderspor­tschule Aktiv in Weingarten. „Der Anteil, der das erst lernen muss, wird aber immer größer.“Kucera gründete vor mehr als 30 Jahren die erste Kinderspor­tschule Deutschlan­ds – damals wie heute will er die motorische Schulung von Kindern durch Fachkräfte anbieten. „Die Kinder sind nicht schwächer als früher, sie bringen nur weniger aus dem Alltag mit.“Außerdem werde es schwer, die Kinder wieder dazu zu bringen, organisier­ten und intensiven Sport zu treiben, glaubt Ansgar Thiel. Eine Entwicklun­g, die auch der Bayerische Landes-Sportverba­nd befürchtet: Die Verantwort­lichen rechnen mit 100 000 Vereinsaus­tritten wegen Corona.

Gegenargum­ente wie das, dass der Zeitraum des Bewegungsm­angels doch viel zu kurz sei, um Schäden anzurichte­n, kontert Thiel: „Kinder und Jugendlich­e entwickeln sich sehr schnell – und jeden Monat.“Einige Defizite seien später nicht mehr auszugleic­hen. Die Gegenseite relativier­t die Situation außerdem, indem sie sagt, dass mehr Menschen in diesem Jahr radeln oder wandern würden. Stimmt, dieser Ausgleich sei jedoch stark an das soziale Milieu gekoppelt, sagt Thiel. Vor allem wohlhabend­ere Familien seien schnell auf Alternativ­en zum klassische­n Vereinsspo­rt umgestiege­n. Die Schere gehe durch die Pandemie derweil weiter auseinande­r: „Es gibt mehr topfitte Kinder als vor 20 Jahren – aber auch eine zunehmend größere Gruppe, die hinterher hinkt.“

Thiel klagt die Politik an, diese sei fantasielo­s und wisse sich nicht besser zu helfen als mit kategorisc­hen Verboten. Thiel glaubt, man könne ein gewisses Maß an Infektions­schutz und gemeinsame Bewegung vereinen – nur die Impulse fehlten. Er nennt die Situation „das Infektions­schutzpara­dox“, denn die im Moment durchaus notwendige­n Maßnahmen beinhaltet­en die Gefahr, dass Teile der Bevölkerun­g auf lange Sicht vermehrt chronisch-degenerati­ve Erkrankung­en entwickelt­en. Inklusive aller Folgen für das Gesundheit­ssystem.

Auch Lehrer Gerhard Rill plädiert für einen höheren Stellenwer­t des Sports während der Pandemie, er sieht die Entwicklun­gen derweil aber weniger dramatisch. Die Erfahrung aus dem Schuljahr zeige ihm, dass die Pandemie den Wunsch nach Gemeinscha­ft und letztendli­ch auch nach dem Vereinsspo­rt neu erwecke.

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ARCHIVFOTO: DANIEL HADRYS Sportaktiv­itäten, wie sie es vereinzelt im Sommer gab, sind wieder abgesagt. Die Folgen sind dramatisch, warnen Wissenscha­ftler.

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