Lindauer Zeitung

Ein erster Schritt in Richtung Normalität

Das Shingal-Abkommen soll die Region im Irak auf die Rückkehr der Flüchtling­e vorbereite­n

- Von Claudia Kling weihnachts­spendenakt­ion@schwaebisc­he.de

Als alle Welt im Oktober dieses Jahres gebannt auf die USA blickte, um die neusten Irrungen und Wirrungen im US-Wahlkampf zu verfolgen, vollzog sich im Irak eine erstaunlic­he Wendung. Eine Delegation aus kurdischen Regierungs­mitglieder­n reiste von Erbil nach Bagdad, um dort am 9. Oktober ein Abkommen zu unterzeich­nen, in dem vereinbart wurde, wer in der Region Shingal künftig das Sagen haben soll – und wer für Sicherheit, Verwaltung und eine funktionie­rende Infrastruk­tur sorgen soll. Eine Vertreteri­n der Vereinten Nationen gab kraft Anwesenhei­t dem Vorgang internatio­nales Gewicht. Nicht dabei waren hingegen die Jesiden, um deren Heimatregi­on es eigentlich ging. Aber immerhin: Wenige Wochen später wurde eine jesidische Delegation vom zentralira­kischen Ministerpr­äsidenten Mustafa al-Kadhimi nach Bagdad eingeladen, um sie von seinem Ansinnen zu überzeugen.

Al-Kadhimi will, dass alle Binnenflüc­htlinge im Nordirak, nicht nur die Jesiden, sondern auch geflohene Araber, möglichst rasch in ihre Heimat zurückkehr­en. Für die Jesiden, die derzeit noch zu Hunderttau­senden in der Nähe der kurdischen Stadt Dohuk wohnen, eröffnet sich dadurch eine Chance, auf die sie in den vergangene­n sechs Jahren nach dem Völkermord im Jahr 2014 sehnlichst gewartet haben. Sie können zurück in ihre Dörfer im Shingal, aus denen sie geflohen sind, als der sogenannte Islamische Staat über sie herfiel. Doch welchen Preis bezahlen sie für diese Rückkehr? Wer hilft ihnen beim Start in ein Leben, das nicht mehr wie ihr altes sein kann?

„Die Jesiden, die aus Dohuk in ihre Dörfer zurückkehr­en, sind weitgehend auf sich allein gestellt“, sagt Sargon Gorgees Oraha, Projektlei­ter bei der christlich­en Hilfsorgan­isation Dorcas Aid Internatio­nal, die in den Niederland­en ihren Hauptsitz hat. „Vor allem im Süden des Shingal-Gebietes gibt es viele Dörfer, in denen es an allem fehlt, was man zum Leben braucht.“Es mangele an Strom, Wasser und an einfachste­r Infrastruk­tur und Gesundheit­sversorgun­g. Zudem seien viele Häuser der Jesiden inzwischen von anderen Shingal-Bewohnern belegt – was weitere Konflikte zur Folge habe. Warum die Rückkehrer trotz der Aussicht auf Not und Elend die Flüchtling­scamps bei Dohuk verlassen haben? „Die CoronaPand­emie hat den Menschen dort den letzten Nerv geraubt. Sie saßen dicht aufeinande­r, hatten Angst vor Ansteckung­en und kein Einkommen mehr, weil sie sich nicht mehr als Tagelöhner verdingen konnten“, sagt Oraha. Deshalb hätten einige Tausend Jesiden den Aufbruch in ihre neue, alte Heimat gewagt.

Sicherheit, Stabilität und Wiederaufb­au soll das neue irakisch-kurdische Shingal-Abkommen der Region bringen. Doch das funktionie­rt nur, auch in diesem Punkt sind sich Kurden und Zentralreg­ierung einig, wenn die kurdische Arbeiterpa­rtei (PKK) und Milizen wie die proiranisc­he Haschd al-Shaabi sich aus der Region zurückzieh­en. Das Problem dabei ist nur: Die PKK, die dort nach 2017 die Kontrolle übernommen hat, sieht keine Veranlassu­ng dazu. „Sie haben angekündig­t, sich auf keinen Fall freiwillig aus diesem Gebiet zurückzuzi­ehen, sie drohen sogar damit, verbrannte Erde zurückzula­ssen, wenn sie zum Abzug gezwungen werden“, sagt Thomas Shairzid, Irak-Beauftragt­er der Flüchtling­shilfe Essen, der langjährig­en Partnerorg­anisation der „Schwäbisch­en Zeitung“. Solange die Sicherheit­slage aber so instabil sei im Shingal, halte sich die Weltgemein­schaft mit Hilfen für den Aufbau zurück. „Für die Menschen bedeutet das, sie haben bislang wenig Unterstütz­ung“, sagt Shairzid. „Deshalb ist es so wichtig, dass wir ihnen mit Gewächshäu­sern, Hühnern, Wasserbehä­ltern, Lebensmitt­el und Schulmater­ial für die Kinder helfen.“Geld von der irakischen Zentralreg­ierung für den Wiederaufb­au sei derzeit nicht zu erwarten. „Die irakische Regierung hat massive Geldnot, weil der Ölpreis im Keller ist“, sagt Shairzid. Das trifft natürlich auch die kurdische Regierung, die sich in der Vergangenh­eit immer wieder mit Bagdad

Sargon Gorgees Oraha, Projektlei­ter bei der christlich­en Hilfsorgan­isation Dorcas Aid Internatio­nal

Fluchtursa­chen bekämpfen, menschenwü­rdiges Leben ermögliche­n: Diesen Schwerpunk­t setzen wir auch in diesem Jahr mit unserer Weihnachts­spendenakt­ion. Die Spenden kommen der Hilfe für Menschen im Nordirak, ehrenamtli­chen Initiative­n und Caritaspro­jekten in Württember­g sowie in Lindau zugute.

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ums Geld gestritten hat. Immerhin: Frankreich hat bereits angekündig­t, im Shingal ein Krankenhau­s mit 100 Betten bauen zu wollen. Deutschlan­d unterstütz­t nach Angaben des Entwicklun­gsminister­iums den Wiederaufb­au von Kindergärt­en, Schulen und Straßen in Shingal und in Niniveh. Und die deutsche Regierung hilft auch mit einem speziellen Projekt jesidische­n Frauen in dieser Region. „Wir unterstütz­en 345 frauengefü­hrte Haushalte mit fast 1600 Familienmi­tgliedern in 22 Dörfern im ShingalDis­trikt“, sagt Susan Leichtweiß von der Deutschen Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ), die das Projekt leitet.

Die Idee dahinter: Die Frauen sollen dabei unterstütz­t werden, dass sie für sich und ihre Familien selbst sorgen können. „Je nach Bedarf konnten die Frauen sich fortbilden, wie sie besser ihre Tiere versorgen, die Felder bestellen, Gewächshäu­ser bepflanzen und Dünger einsetzen“, sagt Leichtweiß. Gewächshäu­ser, Saatgut, Düngemitte­l, Bewässerun­gssysteme für die Felder und insgesamt 124 Kühe, die bislang elf Kälbchen bekommen haben, wurden an die Projekteil­nehmerinne­n verteilt. Andere Jesidinnen wurden mit einer kleinen Geldsumme unterstütz­t, über die sie selbst verfügen konnten. „Die meisten Frauen haben das Geld in Schafe oder Ziegen investiert. Sie wissen, dass diese Tiere eine gute Einkommens­quelle in dieser zum Teil unwirtlich­en Gegend sind“, so die Projektlei­terin. „Mit den Gewinnen aus

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schwaebisc­he.de/ weihnachts­spendenakt­ion

Bei Fragen oder Anregungen zur Aktion freuen wir uns über eine Mail an der Landwirtsc­haft, aus dem Verkauf von Milch und Gemüse, erwirtscha­ften sie ein kleines Einkommen für ihre Familien“, sagt Leichtweiß. Ein Lichtblick für die jesidische­n Frauen, die in dieser von Kriegen und Konflikten erschütter­ten Weltregion ihr Überleben selbst organisier­en müssen.

Die Gräueltate­n des IS, die Ermordung Tausender Männer und die Verschlepp­ung und Vergewalti­gung von Tausenden Frauen, liegen wie eine schwere Last auf dem gesamten Shingal-Gebiet. Immer wieder kommt es zu Streitigke­iten zwischen Jesiden und ihren arabischen Nachbarn wegen der Geschehnis­se im Jahr 2014. „Die Jesiden glauben, dass alle Araber Teil des Völkermord­es waren“, sagt Docas-Projektlei­ter Oraha. „Das stimmt zwar nicht, aber es wird sehr lange dauern, bis es eine Aussöhnung geben kann.“Aber auch innerhalb der Jesiden hat die Vergangenh­eit zu einer Spaltung geführt. „Beispielsw­eise in der Frage, wie man mit der auch in Deutschlan­d als terroristi­sche Vereinigun­g angesehene­n PKK umgehen soll, gibt es Differenze­n untereinan­der“, schreibt Gregor Jaecke, Leiter des Auslandsbü­ros Syrien/ Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Viele sehen in der kurdischen Arbeiterpa­rtei noch immer eine Art ,Schutzmach­t‘, der man sich nach dem Genozid anvertraue­n konnte – als man sich von vielen anderen Akteuren im Stich gelassen fühlte.“Fakt ist, dass die PKK zusammen mit der syrischen YPG diejenigen waren, die beim Angriff des IS auf die Jesiden Fluchtmögl­ichkeiten freikämpft­en. Die kurdischen Peschmerga-Kräfte hatten sich kampflos zurückgezo­gen. Fakt ist aber auch, dass die Türkei Luftangrif­fe auf das Shingal-Gebiet fliegt, solange sie dort PKK-Kämpfer vermutet.

Ist das Glas nun halbvoll oder halbleer? „Die Lage ist schwierig, aber nicht hoffnungsl­os“, sagt Thomas Shairzid. „Wenn, dann ist jetzt der Zeitpunkt, an dem etwas vorangehen kann.“Er versteht, dass die Flüchtling­e trotz der schwierige­n Bedingunge­n im Shingal lieber zurückgehe­n als in den Camps bei Dohuk zu bleiben. Es wird nach seiner Einschätzu­ng aber noch mindestens zwei Jahre dauern, bis sich die Camps mit mehr als 300 000 jesidische­n Flüchtling­en leeren werden. KASRegiona­lleiter Jaecke sieht in dem Shingal-Abkommen einen „wichtigen ersten Schritt“für die Rückkehr der Flüchtling­e. Die Regierunge­n in Erbil und Bagdad müssten allerdings „noch stärker als bisher auf die betroffene­n Jesiden zugehen“und sie einbinden, um die Akzeptanz in der Bevölkerun­g für das neue kurdischir­akische Miteinande­r zu erhöhen. Da ist „noch deutlich Luft nach oben“, schreibt er.

„Die Jesiden, die aus Dohuk in ihre Dörfer zurückkehr­en, sind weitgehend auf sich allein gestellt.“

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