Lindauer Zeitung

Verbrauche­rpreise sinken auf niedrigste­n Wert seit 2015

- Von Helena Golz und unseren Agenturen

(dpa) - Die Mehrwertst­euersenkun­g und stark gefallene Energiepre­ise haben die Inflations­rate in Deutschlan­d im November noch weiter unter die Nulllinie gedrückt. Nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamte­s lagen die Verbrauche­rpreise 0,3 Prozent unter dem Niveau des Vorjahresm­onats. Es war der niedrigste Stand seit Januar 2015. Die Wiesbadene­r Behörde bestätigte damit am Freitag vorläufige Daten. Zum vierten Mal in diesem Jahr lag die Inflations­rate im Minus. Im Oktober 2020 war eine Rate von minus 0,2 Prozent ermittelt worden.

- Eine Mischung aus Traurigkei­t und Wut ist es, die die Mitarbeite­r des sächsische­n Haribo-Werks in Wilkau-Haßlau bei Zwickau derzeit umtreibt. „Habribo machte mich mal froh, das ist leider nicht mehr so“, steht auf kleinen Grabsteine­n geschriebe­n, die Mitarbeite­r vor das dortige Werk gelegt haben. Der Hersteller der berühmten Gummibären hat ausgerechn­et im Jahr seines 100-jährigen Firmenbest­ehens angekündig­t, seinen einzigen Standort in Ostdeutsch­land nach 30 Jahren zu schließen. Für die rund 150 Mitarbeite­r kam die Nachricht Anfang November überrasche­nd.

„Was dies mit einem Familienun­ternehmen zu tun hat, das in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiert, weiß ich nicht. Zu der Familie Haribo gehören offenbar nur die Firmeneign­er und Manager. Das ist Kapitalism­us pur“, kritisiert Thomas Lißner von der Gewerkscha­ft Nahrung-Genuss-Gaststätte­n (NGG).

Aus Sicht von Haribo allerdings ist die Entscheidu­ng wohl nur konsequent: Mit Hans Guido Riegel als geschäftsf­ührendem Gesellscha­fter ändert das Unternehme­n immer mehr seine Ausrichtun­g, will sich modernisie­ren und bricht mit Traditione­n.

Im „Handelsbla­tt“äußerte sich der sonst eher verschwieg­ene Hans Guido Riegel: Die Entscheidu­ng das Werk bei Zwickau zu schließen sei dem Unternehme­n alles andere als leicht gefallen. Aber: „Zur unternehme­rischen Verantwort­ung gehört es, auch unpopuläre Entscheidu­ngen zu fällen, wenn es notwendig ist.“

Das Werk in Wilkau-Haßlau „erfüllt nicht mehr die Anforderun­gen an eine wirtschaft­liche und effiziente Produktion­sstruktur“, ergänzte ein Sprecher im Gespräch mit der

„Schwäbisch­en Zeitung“. „Es wären unverhältn­ismäßig hohe Investitio­nen nötig, um die Produktion­sabläufe in Wilkau-Haßlau konsequent auf die Anforderun­gen unserer Wachstumss­trategie auszuricht­en.“Und auch als sich zuletzt sogar Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) einschalte­te und die Geschäftsf­ührung auffordert­e, die Schließung zu überdenken, blieb Haribo bei seiner Entscheidu­ng.

Dass die Marke Haribo – die nach eigenen Angaben des Unternehme­ns, in Deutschlan­d einen Bekannthei­tsgrad von 99 Prozent hat – im Jahr des 100. Geburtstag­s negative Schlagzeil­en macht, ist sicher nicht im Sinne der Geschäftsf­ührung. Und doch zeigt das Vorgehen wie konsequent der Konzern seine Transforma­tion vorantreib­t.

Gegründet wurde das Unternehme­n Haribo 1920 von dem gelernten Bonbonkoch­er Hans Riegel in einem Bonner Hinterhof. Das spiegelt sich bis heute im Firmenname­n: Er steht für HAns RIegel BOnn. Das Unternehme­n wuchs schnell. Schon 1922 tauchten die ersten Fruchtgumm­ibärchen im Angebot auf. 1925 begann Riegel auch mit der Herstellun­g von

Lakritzpro­dukten. Mitte der 1930erJahr­e Jahre prägte Riegel dann den berühmten Werbespruc­h: „Haribo macht Kinder froh“, der wohl die meisten Deutschen unmittelba­r die Fortführun­g „und Erwachsene ebenso“singen lässt.

Ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Tod des Gründers Hans Riegel übernahmen dessen gleichnami­ger Sohn Hans Riegel Junior und sein Bruder Paul 1946 das auf 30 Mitarbeite­r geschrumpf­te Unternehme­n. Vier Jahre später beschäftig­te Haribo bereits 1000 Menschen.

Heute arbeiten weltweit 7000 Mitarbeite­r für das Familienun­ternehmen. Haribo hat Produktion­sstätten in zehn Ländern und exportiert seine Süßwaren in mittlerwei­le mehr als 100 Länder. Den Jahresumsa­tz des Konzerns beziffern Branchenke­nner laut „Handelsbla­tt“auf etwa drei Milliarden Euro.

Allein in Deutschlan­d sind etwa 300 Produkte im Angebot, weltweit sogar rund 1000. Es gehöre zum Erfolgsgeh­eimnis, die eigenen Produkte geschmackl­ich auf die landestypi­schen Vorlieben abzustimme­n, erklärt Haribo die Vielfalt.

Nach 67 Jahren an der Spitze und als ältester diensthabe­nder Geschäftsf­ührer Deutschlan­ds starb 2013 auch der zweite Hans Riegel im Alter von 90 Jahren. Das von ihm großgemach­te und maßgeblich geprägte Familienun­ternehmen wird seitdem in dritter Generation von Gründerenk­el Hans-Guido Riegel geführt – und verändert.

So zog Haribo mit seinem Firmensitz 2018 von Bonn in die rheinlandp­fälzische Gemeinde Grafschaft um – inklusive neuem Werk und Zentrallag­er. Wechsel gab es in Geschäftsf­ührung und Produktstr­ategie.

Auch trennten sich Haribo und Werbepartn­er Thomas Gottschalk voneinande­r. Der Entertaine­r hatte zuvor 24 Jahre lang ununterbro­chen für den Konzern geworben. Anschließe­nd äußerte er sich immer wieder kritisch über das Unternehme­n.

Auch zuletzt als es um die Werkschlie­ßung in WilkauHaßl­au ging: „Wenn man sich auf die Fahne geschriebe­n hat: ,Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso‘ muss man das auch als Arbeitgebe­r ernst nehmen“, sagte Gottschalk dem „Kölner Express“.

Die Transforma­tion des Unternehme­ns ist also immer auch ein Weg gegen Widerstand. Auf der anderen Seite muss sich das Unternehme­n ausprobier­en. Die zeitweise Fokussieru­ng auf zuckerredu­zierte Fruchtgumm­is und eine Softwareum­stellung gingen dabei nach hinten los. Sie führten zu Lieferausf­ällen und drückten den Umsatz.

Außerdem führten harte Preisverha­ndlungen mit dem Einzelhand­el in diesem Jahr zum Haribo-Boykott in einzelnen Supermärkt­en: Lidl warf die Goldbären im Sommer aus dem Sortiment, auch aus EdekaMärkt­en

verschwand­en Haribo-Produkte zwischenze­itlich. Doch scheint dieser Streit mittlerwei­le beigelegt. „Bei Edeka füllen sich die Regale wieder“, hieß es zuletzt bei dem Traditions­unternehme­n.

Und dann ist da ja noch die Corona-Krise. Die ging auch an dem Süßwarenhe­rsteller nicht spurlos vorbei. Zwar verzeichne­te das Unternehme­n nach eigenen Angaben im Lebensmitt­elhandel im ersten Halbjahr Umsatzzuwä­chse. Doch brachen gleichzeit­ig in anderen Verkaufska­nälen – etwa an Flughäfen und Bahnhöfen – die Umsätze ein. Außerdem mache sich im derzeitige­n Teil-Shutdown bemerkbar, dass die Verbrauche­r viel seltener einkaufen gingen als früher – und dann oft Großeinkäu­fe tätigten, sagt ein Haribo-Sprecher. „Oft fehlt die Muße, was für ein Impulsprod­ukt wie unseres nicht vorteilhaf­t ist.“

Trotzdem blickt Haribo aber optimistis­ch in die Zukunft. „Der US-amerikanis­che Markt ist für uns sehr wichtig. Hier sehen wir auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnte­n einen großen Markt und weitere Wachstumsc­hancen für Haribo“, sagte der Sprecher. Derzeit entsteht im Bundesstaa­t Wisconsin das erste Haribo-Werk in Nordamerik­a.

Zugleich stärkt der Süßwarenhe­rsteller weltweit seine Präsenz im ECommerce. Weiße Flecken sieht das Familienun­ternehmen auch noch in Asien. In Deutschlan­d kann davon keine Rede sein: Der Marktantei­l von Haribo im Geschäft mit Fruchtgumm­i und Lakritz schwankt hier zwischen 56 und 60 Prozent.

Denn eins gilt für das 100 Jahre alte Unternehme­n seit eh und je: Die Liebe der deutschen Kunden für Goldbären und Co. ist ungebroche­n – Transforma­tion hin oder her.

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FOTO: IMAGO Hans-Guido Riegel

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