Du bist schuld!
Würde man die Menschen fragen, wer für die hohen Corona-Zahlen verantwortlich ist, käme schnell eine lange Liste von Kandidaten zusammen – von den Schulen bis zu den Großfamilien. Sicher ist: Schuld wären immer die anderen, das weiß schließlich schon jedes Kind. Es gibt viele beliebte Buhmänner – die Nachbarn, die Kollegen und natürlich die da oben in der Führungsetage. Ansonsten: die Alten, die Jungen, die Migranten, die Kapitalisten, die Linken, die Rechten, ganz abgesehen von den alten weißen Männern. Selbst steht man erstaunlicherweise immer auf der richtigen Seite.
Es scheint in der Natur von uns Menschen zu liegen, Gräben aufzureißen, uns auf eine Seite zu schlagen und Gegner aufzubauen. Ein Phänomen, das man nicht nur während Trumps Regierungszeit beobachten konnte. Auch hierzulande hat Corona längst Gräben entstehen lassen. Das zeigen nicht nur die Demos jener, die die „Pandemie der Lügen“beenden und „Schüttelfrost-Angie“„verrecken“lassen wollen. Das zeigt sich auch im Alltag, auf der Straße oder in Einkaufszentren, wo es regelmäßig zu Streit kommt, wenn jemand mit verrutschter oder ganz ohne Maske herumläuft. Bei den oft wüsten Wortgefechten brechen sich geballte Frustration, Verzweiflung und Ängste Bahn – und wird das Gegenüber für die gesamte Misere verantwortlich
ANZEIGE gemacht. Da bedarf es einiges an Selbstkontrolle, um die Wut im Zaum zu halten.
„Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“, soll Jesus gesagt haben. Feindbilder sind so alt wie die Menschheit. Sie böten Sicherheit, meint der Psychoanalytiker Eckhard Frick, sie würden helfen, die eigene Sicht auf die Dinge zu ordnen. Mehr noch: Feindschaft scheint auch Kräfte zu mobilisieren. Deshalb ist der Testosteron- und Kortisolgehalt bei Hockeyspielern während Heimspielen
höher als auswärts, vermutlich, um das eigene Territorium besser verteidigen zu können.
Die Wut auf andere bringt also Zunder ins Leben – und könnte somit ein Kraftschub sein, um Dinge zu verändern. Allerdings machte sich Greta Thunberg mit ihrem Protest viele Feinde, obwohl sie doch das Wohl unserer aller Umwelt im Sinn hatte. Aber es war dieses eine Wörtchen, mit dem sie viele gegen sich aufbrachte, das „ihr“, das sie auf dem UN-Klimagipfel nutzte. „How dare you“, lautete Thunbergs Kampfansage, die sich keineswegs nur gegen die Regierungschefs richtete, sondern im Grunde alle meinte, die älter sind als sie selbst. Auch als die Schülerinnen und Schüler ihre „How dare you“-Plakate durch die Städte trugen, war für Eltern und Großeltern klar, dass letztlich sie damit gemeint sind.
Der Einsatz für den Umweltschutz wurde so plötzlich zum handfesten Generationenkonflikt, was zu Abwehr, Häme und Aggression führte. Deshalb wurde auch kaum über Umweltschutz diskutiert, sondern lieber darüber, ob man für Demos die Schule schwänzen darf oder nicht. In der nächsten Runde holten die Erwachsenen zum effektiveren Gegenschlag aus und stellten die Jugendlichen selbst an den Pranger. Die Medien beobachteten nun kritisch, ob die Schiffsreise von Greta Thunberg zum Klimagipfel überhaupt umweltfreundlich sei. Es wurde aufgerechnet, wie viele Ressourcen die Jugend verschleudert mit ihrem exzessiven Handy-Konsum, dem stromintensiven Streamen oder den fast schon obligatorisch gewordenen Fernreisen nach der Schulzeit.
Nun ist die Frage, ob es der Sache tatsächlich dienlich ist, bei diesem wichtigen Thema einen solchen Graben aufzureißen – oder ob es nicht effektiver wäre, an einem Strang zu ziehen. Wahrscheinlich wird sich erst aus der Distanz beurteilen lassen, ob die Jugendproteste in den Köpfen etwas bewirkten – oder ob die Frontstellung im Gegenteil beim Einzelnen sogar eher verhindert, mit sich selbst kritisch ins Gericht zu gehen. Konstruktiv jedenfalls sind Konfrontationen in den seltensten Fällen.
Bleibt die Frage, warum der einigermaßen zivilisierte Mensch so bereitwillig und schnell in Kampfstellung geht? Warum sind wir als soziale Wesen auf Gemeinschaft angewiesen – und tun uns doch so schwer, im Wir zu denken? Warum wird der andere so leichtfertig zum Gegner erklärt, den man mit Löwengebrüll in die Schranken weist? Schon mit vier Jahren ist Kindern die Struktur des Freund-FeindDenkens vertraut, haben Petra Hesse und Debra Poklemba in einer Studie aufgezeigt. Dieses Schwarz-WeißDenken hilft offensichtlich, mit Bedrohung, Unsicherheit und Widersprüchen umzugehen.
Psychologen sprechen von Projektion, wenn eigene Gefühle anderen zugeschoben werden. Ängste, Ohnmachtsgefühle oder auch Wünsche, die man nicht wahrhaben oder nicht ausleben darf, werden kurzerhand auf den Anderen projiziert. Eine effektive Strategie, denn indem man dem anderen unterstellt, besonders egoistisch, unmoralisch, gierig, verantwortungslos oder triebhaft zu sein, bestätigt man sich selbst, frei von solch niederen Instinkten zu sein – kann diese Gefühle dabei aber ein
Stück weit ausleben. So heftig man sich über die Faulheit des Kollegen empört, so stark könnte der Wunsch sein, selbst die Füße hochzulegen.
Auch bei Rassisten kann man diese Strategie gut ablesen: All das, was man selbst nicht sein will, wird dem anderen zugeschoben.
Das zeigt sich auf interessante Weise auch bei der Entwicklung der Emanzipationsbewegung. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Kampf um Gleichberechtigung enorme Erfolge hervorgebracht hat. Trotzdem existiert weiterhin ein starres Schwarz-Weiß-Bild, das Männer als Privilegierte und Täter darstellt, Frauen dagegen als benachteiligte Opfer. Es lässt sich sogar ein Schulterschluss zwischen Männern und Feministinnen beobachten, die sich einig zu sein scheinen, dass Frauen per se benachteiligt sind.
So wird dieser Opferdiskurs wie eine Schablone über sämtliche Ereignisse gelegt. Politik und Wissenschaft legen regelmäßig Studien vor, die beweisen wollen, dass Frauen die Verliererinnen sind. Auch die Medien versuchen, immer neue Bereiche aufzuspüren, in denen Frauen benachteiligt sein könnten – in der Partnerschaft, in der Corona-Krise, bei den Preisen für Kosmetik oder der medizinischen Betreuung bei Herzinfarkten.
Selbst wenn Frauen wichtige Posten erreichen, wird umgehend nach einem Etikett gesucht, das sie als erste Frau in dem Kontext ausweist. Eine zwiespältige Strategie, denn mit dem Lob „erste Frau“wird unausgesprochen auch die Frage aufgeworfen, ob Frauen überhaupt geeignet sind – gäbe es sonst nicht längst mehrere in vergleichbarer Position?
So zementiert das, was als Kampf für Gerechtigkeit verstanden wird, letztlich sogar den Graben zwischen den Geschlechtern. Obwohl jüngere Feministinnen versuchen, dieses Narrativ zu überwinden, scheint sich die Gesellschaft bestens eingerichtet zu haben in diesem Schwarz-WeißDenken – und ignoriert dabei, dass Ungerechtigkeit keine Geschlechterfrage ist. Denn es gibt sehr viele benachteiligte Männer, die keinen Zugang zu Bildung haben und schlechter qualifiziert und bezahlt sind als viele Frauen. Übersehen wird auch gern, dass die idealisierte Karriere des Mannes häufig einen hohen Preis hat – gesundheitlich wie sozial.
Statt nur Täter und Opfer zu sehen, könnte man auch mal fragen, was ein gutes Leben ausmacht und für die Gesellschaft hilfreich wäre. Überspitzt formuliert: Ist es wirklich das Ziel, dass eben auch Frauen mit einem 20Liter-SUV die Welt verpesten und wegen des Karrierekampfs mit Mitte fünfzig einen Herzinfarkt bekommen? Nur wer differenziert, findet kluge Lösungen.
Die großen Gräben in der Gesellschaft kann man als Einzelner kaum schließen. Aber manchmal könnte man schon innehalten und fragen, ob es nötig ist, schon wieder die Schwarz-Weiß-Kategorien zu bedienen oder gar einen neuen Graben aufzureißen. Bedachtes Agieren ist in Frontstellung nämlich kaum möglich. Stattdessen stellt sich eine Starre ein, die verhindert, dass wir uns weiterentwickeln und sich uns neue Perspektiven eröffnen. Letztlich schränkt jeder Graben die eigene Bewegungsfreiheit ein. Da könnte es eine schöne Option sein, sich gelegentlich über eine Brücke auf Neuland zu wagen.