Lindauer Zeitung

Der erste ECE kommt von Lindau nur bis Hergatz

Aus Gewohnheit leitet Fahrdienst­leiter den ersten elektrifiz­ierten Eurocity-Express auf ein Gleis ohne Oberleitun­g

- Von Dirk Augustin

- Die erste Fahrt eines Eurocity-Express von Lindau nach München geht in die Geschichte ein. Aber anders als die Bahn AG gehofft hat. Denn die Fahrt endete nach wenigen Minuten im Bahnhof Hergatz.

Die Ursache war sofort auch für Laien sichtbar: Denn der Hochgeschw­indigkeits­zug stand in Hergatz auf Gleis eins – und dort gibt es keine Oberleitun­g. Bahn-Mitarbeite­r klärten die Fahrgäste und mitfahrend­en Journalist­en auf, dass der Fahrdienst­leiter die Weichen für den Zug vor Hergatz aus Gewohnheit auf das Gleis in Richtung Kempten gestellt hat. Denn während die Bahn in den vergangene­n Jahren die Strecke über Memmingen für den ECE ausgebaut und dort Oberleitun­gen errichtet hat, fuhr der bisher von Dieselloks gezogene Eurocity über Kempten. Dort wird es auf Jahre hinaus keine Oberleitun­gen geben.

Die Bahn AG hat zwar in den vergangene­n Monaten auf allen Ebenen Werbung dafür gemacht, dass an diesem Sonntag das Stromzeita­lter über den Schienen der Strecke LindauMemm­ingen-München beginnt. Doch beim Fahrdienst­leiter im Elektronis­chen Stellwerk Immenstadt war diese Auskunft offenbar nicht angekommen, denn er leitete den Zug auf das gleiche Gleis wie am Samstag.

Ein Fahrgast der ersten Klasse berichtete später, dass er beim Blick auf dem Fenster gesehen habe, wie die Oberleitun­g auf dem Nebengleis in heftigen Schwingung­en war. Zudem war ein Teil des Stromabneh­mers auf dem Restaurant-Waggon abgebroche­n. Der Zug rollte noch bis an den Bahnsteig im Hergatzer Bahnhof. Dort endete die Fahrt.

Im Zug waren knapp 60 Fahrgäste. Darunter waren viele Bahnfreund­e, die in diesem ersten Zug unter Strom nach München fahren sollten. Zu ihnen gehörte Barbara Heumann: Die frühere Stadträtin und „Kabarätist­in“aus Lindau, deren Vater, Großvater und Urgroßvate­r bei der Bahn gearbeitet hatten, hatte zwar wegen Corona erst gezögert, hatte sich dann aber doch eine Fahrkarte gekauft. Auch Karl Schweizer, Sprecher der Aktionsgem­einschaft Inselbahnh­of, wollte sich diese erste Fahrt selbst kritisch anschauen.

Wie die anderen Fahrgäste mussten sie in Hergatz aussteigen. Das ärgerte diejenigen, die in Memmingen, Buchloe oder München umsteigen wollten und deren Anschlussz­üge nicht mehr erreichbar waren. Doch die Bahnfreund­e, die nur wegen der historisch­en Fahrt im Zug saßen, nahmen es mit Humor – zumindest so lange, bis klar wurde, dass sie eine

Weile warten oder sich mit dem Auto abholen lassen müssen. Gut eine Stunde hat es nach Angaben von Bahnsprech­er Anton Knapp gedauert, bis die ersten Dieselzüge wieder zwischen Lindau und Hergatz fahren konnten.

Denn nach dem Unfall war die Zugstrecke zunächst komplett gesperrt. Erst mussten Techniker kommen, um die Strecke zu prüfen. Es kam ein Spezialzug aus Augsburg, um die Oberleitun­g zu reparieren. So fuhr der erste ECE, der München auch wirkliche erreichte, in Lindau erst um 15.10 Uhr ab.

Außerdem musste eine Diesellok aus Kempten anfahren, um den beschädigt­en ECE abzuschlep­pen. So endete die Premierenf­ahrt des Hightechzu­gs am Abschlepph­aken einer schnöden Diesellok. Ob der Zug über Lindau in die Schweiz geschleppt wird oder nach München, das stand laut Bahnsprech­er Michael-Ernst Schmidt am späten Sonntagnac­hmittag noch nicht fest.

Die Fahrgäste mussten auf der Weiterfahr­t auf den ECE-Komfort verzichten. Schon die kurze Fahrt von Lindau bis Hergatz hat aber Eindruck hinterlass­en. Sitze und Einrichtun­g sind in grau-blau gehalten. Die Sitze sind bequem, jeder kann sie nach Geschmack neigen, es gibt Fußstützen. Alle Anzeigen sind elektronis­ch. Aufgeklebt­e Schilder weisen Fahrgäste auf Deutsch, Englisch, Französisc­h und Italienisc­h hin. An beiden Enden jedes Waggons gibt es Gepäckrega­le, einige davon lassen sich als Fahrradauf­hänger verwenden. Zusätzlich gibt es über den Sitzen

Gepäckfäch­er. Im Zug gibt es WLAN und ein Bordrestau­rant.

Völlig ohne Probleme ist am Sonntagmor­gen der erste Zug aus München bis Zürich gefahren. Einige Zuschauer waren auf Bahnsteig 22 des neuen Festlandba­hnhofs in LindauReut­in, als der Zug dort pünktlich um 8.50 Uhr einfuhr und den Bahnhof zwei Minuten später in Richtung Schweiz verließ. Knapp zwanzig Minuten später fuhr auf Gleis 21 hupend der spätere Pannenzug ein. Das sei „ein historisch­er Moment“, sagte in Lindauer unter Zustimmung der Umstehende­n, die es schade fanden, dass Bahn, Bund, Freistaat und Stadt alle geplanten Feierlichk­eiten wegen Corona absagen mussten.

Vor Ort gab es Kritik am schmalen Bahnsteig 21, an fehlenden Zugängen vom Parkplatz und von der Bushaltest­elle zum Bahnsteig. Fahrgäste müssen deshalb zu Fuß Umwege in Kauf

ANZEIGE nehmen. Lindaus Bürgermeis­ter Mathias Hotz, der mit Sohn Maximilian vor Ort war, erinnerte an die zähen Grundstück­sverhandlu­ngen mit der Bahn, die auch den eigentlich geplanten Bushalt nahe dem Eingang verhindert haben. Hotz hofft, dass die Bahn die Baustellen­einrichtun­gen dort abbauen und die Fläche dann der Stadt überlassen kann. Dann will Hotz dort bessere Zugänge schaffen und den einengende­n und hässlichen Zaun dort beseitigen: „Es gibt ja schon fertige Pläne.“

Nichts mehr ändern kann die Stadt wohl an den Aufzügen. Denn der neue Bahnhof ist zwar barrierefr­ei, aber die Aufzüge zum Steg über den Gleisen sind so eng, dass höchstens ein Rollstuhl, Kinderwage­n oder Fahrrad sowie zwei Personen dort Platz haben. Wenn also eine Gruppe mit mehreren Radfahrern auf die Mittelbahn­steige wollen, müssen sie zeitig kommen, damit alle rechtzeiti­g auf der anderen Seite sind.

Lindauer störten sich im Nieselrege­n am Sonntagmor­gen daran, dass die Dächer viel zu kurz sind, um einen reserviert­en Platz in dem langen ECE trockenen Fußes zu erreichen. Der frühere Bauamtslei­ter Georg Speth ärgerte sich zudem, dass die Bahn entgegen ihrer Verspreche­n das Dach auf dem Mittelbahn­steig nicht durchgehen­d in der Mitte transparen­t gebaut hat. Doch bei aller Kritik überwog in Lindau die Feststimmu­ng, als die beiden ersten ECE in Reutin ein- und wieder abfuhren. Auch im Zug herrschte bei den Fahrgästen Freude über Komfort und Tempo, denn der ECE fuhr schnell durch das Gleisdreie­ck und zwischen den noch unvollstän­digen Schallschu­tzwänden hindurch. Da konnte niemand ahnen, wie schnell diese Fahrt zu Ende gehen würde.

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FOTO: RALF LIENERT Panne bei der Premiere: Eine Diesellok muss den auf ein Gleis ohne Oberleitun­g geleiteten ECE zur Reparatur abschleppe­n.
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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Bei der pünktliche­n Abfahrt in Lindau feiern Bahnfreund­e das neue Stromzeita­lter auf der Bahnstreck­e Lindau-München noch. Einige wollen diesen historisch­en Moment erleben.
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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Der Astoro bietet Fahrgästen in den Großraumwa­gen den Komfort eines ICE, dazu gehören auch WLAN und Zugrestaur­ant.
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FOTO: CF Im Astoro können Fahrgäste sogar ein Fahrrad mitnehmen, wenn sie das vorher anmelden.

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