Der erste ECE kommt von Lindau nur bis Hergatz
Aus Gewohnheit leitet Fahrdienstleiter den ersten elektrifizierten Eurocity-Express auf ein Gleis ohne Oberleitung
- Die erste Fahrt eines Eurocity-Express von Lindau nach München geht in die Geschichte ein. Aber anders als die Bahn AG gehofft hat. Denn die Fahrt endete nach wenigen Minuten im Bahnhof Hergatz.
Die Ursache war sofort auch für Laien sichtbar: Denn der Hochgeschwindigkeitszug stand in Hergatz auf Gleis eins – und dort gibt es keine Oberleitung. Bahn-Mitarbeiter klärten die Fahrgäste und mitfahrenden Journalisten auf, dass der Fahrdienstleiter die Weichen für den Zug vor Hergatz aus Gewohnheit auf das Gleis in Richtung Kempten gestellt hat. Denn während die Bahn in den vergangenen Jahren die Strecke über Memmingen für den ECE ausgebaut und dort Oberleitungen errichtet hat, fuhr der bisher von Dieselloks gezogene Eurocity über Kempten. Dort wird es auf Jahre hinaus keine Oberleitungen geben.
Die Bahn AG hat zwar in den vergangenen Monaten auf allen Ebenen Werbung dafür gemacht, dass an diesem Sonntag das Stromzeitalter über den Schienen der Strecke LindauMemmingen-München beginnt. Doch beim Fahrdienstleiter im Elektronischen Stellwerk Immenstadt war diese Auskunft offenbar nicht angekommen, denn er leitete den Zug auf das gleiche Gleis wie am Samstag.
Ein Fahrgast der ersten Klasse berichtete später, dass er beim Blick auf dem Fenster gesehen habe, wie die Oberleitung auf dem Nebengleis in heftigen Schwingungen war. Zudem war ein Teil des Stromabnehmers auf dem Restaurant-Waggon abgebrochen. Der Zug rollte noch bis an den Bahnsteig im Hergatzer Bahnhof. Dort endete die Fahrt.
Im Zug waren knapp 60 Fahrgäste. Darunter waren viele Bahnfreunde, die in diesem ersten Zug unter Strom nach München fahren sollten. Zu ihnen gehörte Barbara Heumann: Die frühere Stadträtin und „Kabarätistin“aus Lindau, deren Vater, Großvater und Urgroßvater bei der Bahn gearbeitet hatten, hatte zwar wegen Corona erst gezögert, hatte sich dann aber doch eine Fahrkarte gekauft. Auch Karl Schweizer, Sprecher der Aktionsgemeinschaft Inselbahnhof, wollte sich diese erste Fahrt selbst kritisch anschauen.
Wie die anderen Fahrgäste mussten sie in Hergatz aussteigen. Das ärgerte diejenigen, die in Memmingen, Buchloe oder München umsteigen wollten und deren Anschlusszüge nicht mehr erreichbar waren. Doch die Bahnfreunde, die nur wegen der historischen Fahrt im Zug saßen, nahmen es mit Humor – zumindest so lange, bis klar wurde, dass sie eine
Weile warten oder sich mit dem Auto abholen lassen müssen. Gut eine Stunde hat es nach Angaben von Bahnsprecher Anton Knapp gedauert, bis die ersten Dieselzüge wieder zwischen Lindau und Hergatz fahren konnten.
Denn nach dem Unfall war die Zugstrecke zunächst komplett gesperrt. Erst mussten Techniker kommen, um die Strecke zu prüfen. Es kam ein Spezialzug aus Augsburg, um die Oberleitung zu reparieren. So fuhr der erste ECE, der München auch wirkliche erreichte, in Lindau erst um 15.10 Uhr ab.
Außerdem musste eine Diesellok aus Kempten anfahren, um den beschädigten ECE abzuschleppen. So endete die Premierenfahrt des Hightechzugs am Abschlepphaken einer schnöden Diesellok. Ob der Zug über Lindau in die Schweiz geschleppt wird oder nach München, das stand laut Bahnsprecher Michael-Ernst Schmidt am späten Sonntagnachmittag noch nicht fest.
Die Fahrgäste mussten auf der Weiterfahrt auf den ECE-Komfort verzichten. Schon die kurze Fahrt von Lindau bis Hergatz hat aber Eindruck hinterlassen. Sitze und Einrichtung sind in grau-blau gehalten. Die Sitze sind bequem, jeder kann sie nach Geschmack neigen, es gibt Fußstützen. Alle Anzeigen sind elektronisch. Aufgeklebte Schilder weisen Fahrgäste auf Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch hin. An beiden Enden jedes Waggons gibt es Gepäckregale, einige davon lassen sich als Fahrradaufhänger verwenden. Zusätzlich gibt es über den Sitzen
Gepäckfächer. Im Zug gibt es WLAN und ein Bordrestaurant.
Völlig ohne Probleme ist am Sonntagmorgen der erste Zug aus München bis Zürich gefahren. Einige Zuschauer waren auf Bahnsteig 22 des neuen Festlandbahnhofs in LindauReutin, als der Zug dort pünktlich um 8.50 Uhr einfuhr und den Bahnhof zwei Minuten später in Richtung Schweiz verließ. Knapp zwanzig Minuten später fuhr auf Gleis 21 hupend der spätere Pannenzug ein. Das sei „ein historischer Moment“, sagte in Lindauer unter Zustimmung der Umstehenden, die es schade fanden, dass Bahn, Bund, Freistaat und Stadt alle geplanten Feierlichkeiten wegen Corona absagen mussten.
Vor Ort gab es Kritik am schmalen Bahnsteig 21, an fehlenden Zugängen vom Parkplatz und von der Bushaltestelle zum Bahnsteig. Fahrgäste müssen deshalb zu Fuß Umwege in Kauf
ANZEIGE nehmen. Lindaus Bürgermeister Mathias Hotz, der mit Sohn Maximilian vor Ort war, erinnerte an die zähen Grundstücksverhandlungen mit der Bahn, die auch den eigentlich geplanten Bushalt nahe dem Eingang verhindert haben. Hotz hofft, dass die Bahn die Baustelleneinrichtungen dort abbauen und die Fläche dann der Stadt überlassen kann. Dann will Hotz dort bessere Zugänge schaffen und den einengenden und hässlichen Zaun dort beseitigen: „Es gibt ja schon fertige Pläne.“
Nichts mehr ändern kann die Stadt wohl an den Aufzügen. Denn der neue Bahnhof ist zwar barrierefrei, aber die Aufzüge zum Steg über den Gleisen sind so eng, dass höchstens ein Rollstuhl, Kinderwagen oder Fahrrad sowie zwei Personen dort Platz haben. Wenn also eine Gruppe mit mehreren Radfahrern auf die Mittelbahnsteige wollen, müssen sie zeitig kommen, damit alle rechtzeitig auf der anderen Seite sind.
Lindauer störten sich im Nieselregen am Sonntagmorgen daran, dass die Dächer viel zu kurz sind, um einen reservierten Platz in dem langen ECE trockenen Fußes zu erreichen. Der frühere Bauamtsleiter Georg Speth ärgerte sich zudem, dass die Bahn entgegen ihrer Versprechen das Dach auf dem Mittelbahnsteig nicht durchgehend in der Mitte transparent gebaut hat. Doch bei aller Kritik überwog in Lindau die Feststimmung, als die beiden ersten ECE in Reutin ein- und wieder abfuhren. Auch im Zug herrschte bei den Fahrgästen Freude über Komfort und Tempo, denn der ECE fuhr schnell durch das Gleisdreieck und zwischen den noch unvollständigen Schallschutzwänden hindurch. Da konnte niemand ahnen, wie schnell diese Fahrt zu Ende gehen würde.