Lindauer Zeitung

54 Tage Grauen

Urteil im Prozess um „Charlie Hebdo“am Mittwoch

- Von Christine Longin

- 54 Tage lang stellte sich der Schriftste­ller Yannick Haenel dem Grauen. Täglich brachte der 53-Jährige in der Onlineausg­abe von „Charlie Hebdo“einen Bericht über das, was im Gerichtssa­al des gläsernen Justizpala­stes am Stadtrand von Paris passierte. „Wir erwarteten die Wahrheit und haben stattdesse­n das Unglück für alle: Opfer, Familien, Angeklagte“, schrieb er am Montag, dem letzten Tag des Prozesses um die Attentate auf „Charlie Hebdo“und den jüdischen Supermarkt. Dabei hatte das Gericht fast drei Monate lang schonungsl­os alles beleuchtet, was zwischen dem 7. und 9. Januar 2015 passierte, als die Brüder Kouachi und Amedy Coulibaly in Paris insgesamt 17 Menschen töteten.

Traumatisi­ert verließen Angehörige den Gerichtssa­al, als die Bilder der Redaktions­räume von „Charlie Hebdo“nach dem Anschlag gezeigt wurden – voller Leichen und Blut. Auch das, was im Supermarkt Hyper Cacher passierte, wurde mithilfe der Aufzeichnu­ngen von Überwachun­gskameras zum ersten Mal einer großen Öffentlich­keit bekannt gemacht. Sogar die elf Angeklagte­n in ihren gläsernen Boxen schienen durch die Aufnahmen erschütter­t. Für ihre Verteidige­r waren sie ohnehin nur Stellvertr­eter für die Brüder Kouachi und Amedy Coulibaly, die tot sind und nicht mehr zur Rechenscha­ft gezogen werden können.

Die meisten Angeklagte­n gaben sich vor Gericht als Kriminelle aus, die zwar in Drogenhand­el und Waffenschm­uggel verwickelt waren, aber nichts von den Anschlagsp­länen ihrer Komplizen gewusst haben wollen. „Ich habe in der ganzen Geschichte nichts zu suchen“, sagte der Hauptangek­lagte Ali Riza Polat, der

Coulibalys rechte Hand gewesen sein soll. Die Anti-Terror-Staatsanwa­ltschaft forderte lebensläng­liche Haft für Rizat sowie für Mohamed Belhoucine. Dieser gehörte zusammen mit Hayat Boumedienn­e, der Witwe von Coulibaly, und Belhoucine­s Bruder Mehdi zu den Abwesenden des Prozesses, denn die drei flohen nach der Tat ins irakisch-syrische Grenzgebie­t. Gegen die anderen Angeklagte­n forderte die Staatsanwa­ltschaft Strafen zwischen fünf und 30 Jahren.

Die Chancen, dass das Gericht ihren Forderunge­n folgt, stehen gut. Denn die aktuelle Anschlagse­rie stärkt die Position der Anklage. Nur vier Wochen nach Prozessbeg­inn verletzte ein Pakistaner mit einem Hackebeil vor dem ehemaligen Redaktions­gebäude von „Charlie Hebdo“zwei Menschen. Gut zwei Wochen später enthauptet­e ein 18-jähriger Tschetsche­ne den Lehrer Samuel Paty. Ende Oktober erstach ein Tunesier in einer Kirche in Nizza drei Gläubige. Die Mohammed-Karikature­n waren in allen Fällen als Motiv mit im Spiel. Durch ihre Veröffentl­ichung hatte „Charlie Hebdo“schon 2006 den Zorn der Muslime auf sich gezogen. Als die Satirezeit­ung die Zeichnunge­n zum Prozessbeg­inn erneut veröffentl­ichte, provoziert­e sie damit die neue Serie islamistis­ch motivierte­r Gewalt. Richard Malka, der „Charlie Hebdo“als Nebenkläge­r vertritt, hielt eine flammende Rede auf die Satirezeit­ung. „Sie könnten uns töten, aber das würde nichts nützen, denn „Charlie“ist eine Idee geworden. Selbst wenn Charlie verschwind­en würde, würde diese Idee weiter leben.“Die Botschaft Malkas ist klar: Mit seinem Urteil am Mittwoch muss das Gericht auf der Höhe der Idee sein, die „Charlie“verkörpert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany