Türkei steht doppelt unter Druck
Nach EU-Sanktionen wegen russischer Flugabwehr ziehen die USA nach – Ankara kündigt Reaktion an
- Das EU-Bewerberland und NATO-Mitglied Türkei wird seit Dienstag gleichzeitig von Europa und den USA mit Sanktionen belegt. Wenige Tage nach der Entscheidung der EU, die Türkei wegen ihrer aggressiven Politik im östlichen Mittelmeer zu bestrafen, verkündete die US-Regierung eigene Strafmaßnahmen wegen der Anschaffung eines russischen Flugabwehrsystems durch Ankara. Die türkische Regierung nannte die US-Sanktionen unfair und kündigte Vergeltung an. Die Sanktionen zeigen, wie weit sich die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan im Verhältnis zu ihren traditionellen Verbündeten ins Abseits manövriert hat. Rückendeckung erhält Erdogan dagegen von Russland und Iran.
Wie schon bei den EU-Sanktionen vorige Woche liegt die Bedeutung der US-Sanktionen vor allem in ihrem Symbolwert und weniger im wirtschaftlichen Schaden, den sie der Türkei zufügen. Der Kurs der Lira zum Dollar blieb nach Bekanntgabe der Sanktionen stabil, weil die Entscheidung erwartet worden war.
Die US-Sanktionen verbieten gemeinsame Projekte und den Technologietransfer zwischen amerikanischen Unternehmen und dem militärischen Beschaffungsamt der Türkei (SSB). Kredite amerikanischer Banken für das SSB werden auf höchstens zehn Millionen Dollar begrenzt, eventuelles US-Vermögen von SSBChef Ismail Demir und drei weiteren Behördenvertretern wird eingefroren; die Betroffenen dürfen bis auf Weiteres nicht mehr in die USA reisen. Das türkische Außenministerium erklärte, Ankara werde die „nötigen Schritte“unternehmen, um auf die Sanktionen zu antworten. Erdogan-Anhänger forderten, die Türkei solle als Antwort auf die Sanktionen den Luftwaffenstützpunkt Incirlik nahe der Grenze zu Syrien für amerikanische Maschinen sperren; Incirlik ist eine wichtige Basis für die USStreitkräfte im Nahen Osten.
Washington und Ankara streiten seit Jahren über Erdogans Entscheidung, das russische Flugabwehrsystem S-400 zu kaufen. Die türkische Regierung argumentiert, sie habe das russische System wählen müssen, weil die USA den Verkauf des amerikanischen Patriot-Systems verweigert hätten. Die USA, Europa und die NATO kritisieren, dass die S-400 nicht mit der integrierten Luftverteidigung der Allianz kompatibel sei und von Moskau benutzt werden könnte, westliche Waffentechnologie auszuspionieren. Die USA haben die Türkei wegen der S-400 auch aus dem gemeinsamen KampfflugzeugProjekt F-35 ausgeschlossen.
Sollte der Streit um die S-400 weitergehen, könnte der designierte USPräsident Joe Biden die Sanktionen verschärfen. Damit wird eine Normalisierung der türkisch-amerikanischen Beziehungen schwieriger. Beide Länder liegen auch wegen der USUnterstützung für eine kurdische Miliz in Syrien über Kreuz.
Die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen haben sich in den vergangenen Jahren verschlechtert, weil Erdogan türkische Interessen gegen die Einsprüche von USA und EU durchsetzen und damit den Anspruch der Türkei auf eine eigenständige Rolle als Regionalmacht unterstreichen will. Gleichzeitig verbesserte die Türkei ihr Verhältnis zu Russland. Der Moskauer Außenminister Sergej Lawrow stärkte der Türkei am Dienstag den Rücken und nannte die US-Sanktionen illegitim und arrogant. Ähnlich äußerte sich der iranische Außenminister Dschawad Sarif.
Der weitverbreitete Antiamerikanismus in der Türkei dürfte Erdogan zumindest kurzfristig vor negativen innenpolitischen Folgen der USSanktionen schützen. Die größte Oppositionspartei in Ankara, die linksnationale CHP, kritisierte die USEntscheidung und forderte Erdogans Regierung auf, die S-400 so schnell wie möglich in Dienst zu stellen. Allerdings denken die türkischen Wähler möglicherweise anders. Eine Mehrheit wolle die Rückbesinnung auf den Westen, sagte der Meinungsforscher Faruk Acar der Internetzeitung „Habertürk“. Das gelte auch für Wähler von Erdogans Partei AKP.
Auch außenpolitisch steckt Erdogan in einer Sackgasse. Die Zusammenarbeit mit Russland, die vor allem taktisch ist und kurzfristigen Zielen dient, kann die zerrütteten Beziehungen zu Europa und den USA nicht ersetzen. Erdogan wertet die Kritik aus dem Westen als Zeichen dafür, dass ausländische Mächte den Aufstieg seines Landes verhindern wollen. Er hat sich bisher darauf verlassen, dass die EU und die USA den geostrategisch wichtigen Partner Türkei nicht vor den Kopf stoßen wollen. Doch dabei hat er sich offenbar verrechnet, wie die Sanktionen aus Brüssel und Washington zeigen.