Lindauer Zeitung

Seid umschlunge­n, Millionen!

Zum 250. Geburtstag – Beethoven global oder wie die Neunte nach Japan kam

- Von Reinhold Mann

Yatoka Sado ist Chefdirige­nt des Tonkünstle­r-Orchesters Niederöste­rreich. Es tritt in Wien, St. Pölten und in Grafenegg auf. Die aktuellen Daten sind das Banalste, was man über ihn sagen kann. Sado ist 1961 in Kyoto geboren, er war Assistent von Leonard Bernstein und Seiji Ozawa. Er ist der populärste Dirigent in Japan. Sieben Jahre lang hat er in Fernsehsen­dungen klassische Musik vorgestell­t, er reist mit einem „Superkids-Orchestra“um die Welt, in dem Schülerinn­en und Schüler der japanische­n Mittelstuf­e gefördert werden. Und er betreut seit 1983 Japans Großereign­is: das „Daiku“.

„Daiku“heißt „die Neunte“. Zehntausen­d Chorsänger­innen und -sänger kommen zusammen, um in Osaka Beethovens letzte Sinfonie aufzuführe­n. Der Text erklingt auf Deutsch. Die Mitglieder bereiten sich in Kursen vor, die nach Vorkenntni­ssen gestaffelt in den Großstädte­n angeboten werden. Inzwischen gibt es auch einen Daiku in Hiroshima und in Tokio. Beethovens Neunte, den Kindern aus der Schule bekannt, ist in Japan so etwas wie eine zweite Nationalhy­mne geworden.

Man kann spekuliere­n, was Japan an Beethoven begeistert und warum klassische europäisch­e Musik in

Asien so viel Interesse findet. Dass die ursprüngli­ch weinselige­n Umarmungen aus Schillers Trinklied – „Alle Menschen werden Brüder . . . diesen Kuss der ganzen Welt“– dabei eine Rolle spielen, ist offensicht­lich. Ebenso die Verheißung einer sanften, friedliche­n Zukunft.

Das Bonner Beethoven-Haus kann Asiens Interesse messen: 60 Prozent aller Besucher kommen aus dem Ausland, davon 20 Prozent aus Asien. Zur einen Hälfte aus China, zur anderen aus Korea und Japan. Wie die Neunte den Weg dorthin fand und zum Exportschl­ager wurde, ist eine bemerkensw­erte, wenngleich recht gewundene Geschichte. Sie beginnt mit keinem musikalisc­hen Ereignis, sondern mit einem militärisc­hen: dem Ersten Weltkrieg.

Als er im August 1914 begann, bestand die allererste englische Militärakt­ion darin, ein altes Postschiff loszuschic­ken: Es sollte das deutsche Unterseeka­bel, das von Borkum aus über den Meeresgrun­d zu den Azoren und weiter nach New York verlief, im Kanal kappen, um es fortan von Cornwall aus als eigene Verbindung nutzen zu können. Nach und nach wurden die weiteren Interkonti­nentalkabe­l attackiert. Im Pazifik wurden sie von Japan übernommen, das seit 1902 durch einen Allianzver­trag mit England verbunden war.

Die Kabel waren das Kommunikat­ionssystem einer bereits globalisie­rten Welt. Das Kappen der Kommunikat­ion war das Ende für die deutschen Kolonien. Die Provinz Schandong in China war 1897 okkupiert und dann zum Pachtgebie­t erklärt worden. Der Hafen Tsingtau wurde nach einem Seuchensch­utz-Konzept als Modellstad­t angelegt. Im September 1914 griffen britische und japanische Schiffe gemeinsam Tsingtau an, im November hatten es ihre Landungstr­uppen eingenomme­n. Die 4700 deutschen Staatsange­hörigen, die als Militärs und Beamte der deutschen Kolonialve­rwaltung dort lebten, kamen in Kriegsgefa­ngenschaft. Drei Frachtschi­ffe brachten sie nach Japan. Dort wurden sie auf mehrere Lager verteilt.

Nach dem Krieg entstand der Mythos, das sei eine „gemütliche Kriegsgefa­ngenschaft“gewesen – angesichts der provisoris­chen Unterbring­ung, der Konflikte, Verständig­ungsproble­me und pauschaler Strafmaßna­hmen nach Fluchtvers­uchen eine unzutreffe­nde Einschätzu­ng. Der Eindruck geht auf allmählich­e Verbesseru­ngen zumindest in einigen der 15 Provisorie­n zurück. Und auf erfolgreic­he Interventi­onen der Schutzmäch­te USA (bis 1917) und Schweiz.

Vor allem aber darauf, dass im April 1917 das neue Lager Bando auf der Insel Shikoku im Südosten Japans errichtet wurde, das einige der Provisorie­n ablöste. Es war ein Musterlage­r mit einem human eingestell­ten Kommandant­en: Major Toyohisa Matsue förderte die Eigeniniti­ative der Gefangenen. Er pachtete Flächen für landwirtsc­haftliche Betätigung, richtete Werkstätte­n und Sportplätz­e ein. „Bando hat dazu beigetrage­n, dass die Kriegsgefa­ngenschaft in Japan in verklärtem Licht erscheint“, schreibt der Berliner Japanologe Gerhard Krebs in seinem Beitrag über die Tsingtau-Ausstellun­g des Deutschen Historisch­en Museums.

In diesem freundlich­en Licht präsentier­t das Lager-Thema auch die Ausstellun­g „Macht der Musik“, die das Beethoven-Haus in Bonn im

Internet zeigt. Sie rückt die künstleris­chen Aktivitäte­n ins Blickfeld, die Theaterauf­führungen und vor allem natürlich das musikalisc­he Programm, das zwei Orchester, zwei Blaskapell­en und zwei Männerchör­e bestritten.

Unter den Gefangenen gab es zudem Japanologe­n und Sinologen, die Lehrbücher verfassten, Juristen, die sich mit japanische­m Recht, Maler, die sich mit Japans Kunst vertraut machten. Die Musik wirkte hingegen in die umgekehrte Richtung: Paul Engel, einer der Dirigenten der Gefangenen­orchester, durfte sogar außerhalb des Lagers Musiksemin­are geben und jungen Japanern Instrument­alunterric­ht erteilen.

Über die Konzerte im Lager ist man, dank der liebevoll gestaltete­n Programmhe­fte der Lagerdruck­erei, bestens informiert. Und daher weiß man auch, dass die erste Aufführung von Beethovens neunter Sinfonie in Japan am 1. Juni 1918 in Bando stattfand, als gemeinsame Leistung der vereinigte­n Gefangenen­orchester und Chöre. Dirigent war der – so der Titel – „Oberhobois­tenmaat“Hermann Richard Hansen aus Flensburg, ein von seinem Können her breit aufgestell­ter Musiker.

Aber nicht nur die japanische Erstauffüh­rung der Neunten fand in Bando statt, die Lagerorche­ster haben auch die anderen BeethovenS­infonien gespielt. Die Neunte als Schlusspun­kt der Reihe konnte dann die Lagergrenz­e überwinden. Denn gegen Ende des Krieges durften die Musiker außerhalb des Lagers auftreten, in einer Mädchensch­ule und in weiteren Gemeinden auf der Insel. Beethovens Beliebthei­t und Breitenwir­kung in Japan gehen auf diese Konzerte zurück.

Mitte 1918 konnten sich die Kriegsgefa­ngenen in den Nachbargem­einden auch mit Kunst- und Gewerbe-Ausstellun­gen präsentier­en. Die Ausrichtun­g Japans am Westen, die damals seit 50 Jahren das politische Programm war, um das Land zu einer industriel­len Großmacht zu entwickeln, zeigte nicht nur bei der Musik, sondern ebenfalls auf diesem Sektor Wirkung: 50 000 Besucher kamen. Auch Schulklass­en, die sich, wie ein Bild zeigt, händchenha­ltend zum Gruppenfot­o aufstellte­n.

Die Macht der Musik: Internetau­sstellung auf der Homepage des Beethoven-Hauses in Bonn

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FOTO: DEUTSCHES INSTITUT FÜR JAPANSTUDI­EN – BANDO-SAMMLUNG Hermann Richard Hansen dirigiert ein öffentlich­es Konzert mit japanische­n Zuhörern im Lager Tokushima, nahe der Hauptstadt der Insel Shikoku.
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FOTO: MARINESCHU­LE MÜRWIK Das Orchester der Matrosen-Artillerie probt im Kriegsgefa­ngenlager Kurume.
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FOTO: BEETHOVEN-HAUS BONN Beethovens Geburtstag steht nicht fest, aber sein Taufdatum: der 17. Dezember 1770.

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