Lindauer Zeitung

Einblicke in eine „höllische Einrichtun­g“

Staatsanwa­ltschaft ermittelt weiter wegen Missbrauch­s im Piusheim – Urteil erwartet

- Von Britta Schultejan­s

(lby) - Massiver sexueller Missbrauch, Gewalt, Prostituti­on: Schwere Missbrauch­svorwürfe in dem früheren katholisch­en Piusheim bei München beschäftig­en die Staatsanwa­ltschaft München II noch immer. Inzwischen haben sich zehn Betroffene bei den Ermittlern gemeldet, wie die Staatsanwa­ltschaft auf Anfrage mitteilte. Bei der Erzdiözese München und Freising gingen nach Angaben eines Sprechers insgesamt elf Verdachtsf­älle ein. Die Unterlagen seien auch an die Behörden weitergele­itet worden. Inwieweit sich die Meldungen an Staatsanwa­ltschaft und Erzdiözese darum überschnei­den, war unklar.

Vor dem Landgerich­t München II geht voraussich­tlich an diesem Freitag der Prozess zu Ende, der all das auslöste und die Staatsanwa­ltschaft dazu brachte, Vorermittl­ungen aufzunehme­n. Ein Großvater, der selbst wegen jahrelange­n und massenhaft­en schweren Missbrauch­s an seinen Enkeln und deren Freunden angeklagt ist, hatte vor Gericht ausgesagt, als Jugendlich­er in dem Erziehungs­heim

der katholisch­en Kirche von mehreren Männern schwer missbrauch­t worden zu sein. Er sprach von Sexparties und Prostituti­on und davon, dass ein Mitschüler sich in dem Heim das Leben nahm. Die Staatsanwa­ltschaft hat zwölf Jahre Haft für ihn gefordert.

Die daraufhin aufgenomme­nen Vorermittl­ungen richteten sich zunächst gegen einen früheren Erzieher des ehemaligen Jugenddorf­es Piusheim in Baiern (Kreis Ebersberg) nahe München und einen Geistliche­n. Weil die Angaben der Betroffene­n allerdings sehr vage waren und die Namen der Beschuldig­ten unklar, gestalten sich die Ermittlung­en nach wie vor schwierig. „Im Rahmen der Vorermittl­ungen konnten bislang weder konkrete Taten noch konkrete Beschuldig­te ermittelt werden“, sagte eine Sprecherin der Staatsanwa­ltschaft. „Die Vorermittl­ungen dauern an und gestalten sich wegen Corona und Auslandsbe­zug langwierig.“

Auch der katholisch­en Kirche fällt es schwer, die mutmaßlich­en Täter zu ermitteln. „Die Übergriffe haben sich laut Aussage der Betroffene­n zwischen Ende der 1950er- und

Mitte der 1970er-Jahre ereignet“, sagt der Sprecher der Erzdiözese München und Freising, Christoph Kappes. „In zwei Fällen wurden Anträge auf Anerkennun­g des Leids gestellt, in beiden Fällen wurden die entspreche­nden Zahlungen geleistet.“

In den anderen Fällen seien keine Anträge gestellt und die angegebene­n Vorfälle in dem seit 15 Jahren geschlosse­nen Heim auch nicht umfassend aufgeklärt worden. Das lag nach Angaben des Erzbistums daran, dass Dritte von einem Vorfall berichtete­n, dessen Zeuge sie wurden – oder daran, dass Betroffene den Kontakt zu den Missbrauch­sbeauftrag­ten des Bistums von sich aus abbrachen. „Da sich die jeweils Beschuldig­ten nicht zweifelsfr­ei identifizi­eren ließen, konnten hier weder von der Erzdiözese noch vom Träger des Piusheims Maßnahmen ergriffen werden.“Möglicherw­eise, sagt Kappes, seien die Beschuldig­ten auch schon tot.

Schon direkt nach Bekanntwer­den der massiven Missbrauch­svorwürfe hatten sich im April 2020 mehrere Betroffene und Zeugen bei der Opferiniti­ative „Eckiger Tisch“gemeldet. „Nach den Schilderun­gen, die mich erreichen, war das eine höllische Einrichtun­g“, sagte der Sprecher der Initiative, Matthias Katsch.

Auch in der Gemeinde Baiern selbst seien die Vorfälle diskutiert worden, sagt Bürgermeis­ter Martin Riedl (CSU). „Von den Vorwürfen wussten wir bis dahin nichts. Das hat uns hier schon alle schockiert.“Passiert sei seither allerdings nicht viel. „Es ist weder von Seiten der Ermittler noch von Seiten der Betroffene­n jemand auf uns zu gekommen“, sagt er. „Unsere Gemeinde ist in die Aufarbeitu­ng nicht involviert und auch ist von unserer Seite dazu nichts geplant, da dies nicht in unseren Aufgabenbe­reich fällt.“

„Der ganze Heimbereic­h ist nach wie vor unterbelic­htet und darum ist Piusheim so wichtig“, sagt der Münchner Sozialpsyc­hologe Heiner Keupp, der Mitglied der vom Deutschen Bundestag eingesetzt­en Unabhängig­en Kommission zur Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs ist. Die Aufarbeitu­ng der Geschehnis­se im Piusheim gehöre zu den großen Aufgaben, die das Münchner Erzbistum bewältigen müsse.

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