Lindauer Zeitung

„Wir überstehen das zusammen“

Wie der Kinderschu­tzbund Lindenberg auch im Lockdown für die Familien da ist

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- Der Kinderschu­tzbund Lindenberg ist auch im derzeitige­n Lockdown für die Familien da. Dafür haben sich die Mitarbeite­rinnen einiges einfallen lassen und digital aufgerüste­t. Eine PandemieVo­rgabe hält die Geschäftsf­ührerin Visnja Witsch im Gespräch mit Ingrid Grohe allerdings für eine Zumutung.

Frau Witsch, der Lockdown ist bis Ende Januar verlängert, Schulen und Kitas bleiben zu. Was haben Sie gedacht, als Sie von diesen Beschlüsse­n hörten?

Mein erster Gedanke war: Bitte nicht noch eine Verlängeru­ng!“Befürchtet hatte ich es schon. Was ich aber schlimm finde ist, dass man sich jetzt nur mit einer weiteren Person treffen darf. Diese Entscheidu­ng ist für Kinder eine Zumutung.

Inwiefern?

Es bedeutet, ich muss einen Freund oder eine Freundin auswählen. Und die anderen bleiben auf der Strecke. Das ist ein schwer erträglich­er Loyalitäts­konflikt. Und bei den Kindern, die eine Absage bekommen, macht das etwas mit dem Selbstbewu­sstsein. Sie erfahren es als Abwertung. Das ist grausam.

Wie viel Verständni­s bringen Buben und Mädchen für die Ausnahmesi­tuation auf?

Das hängt vom Alter ab und von der Haltung der Eltern. Grundsätzl­ich gilt: Je harmonisch­er eine Familie ist, umso leichter oder länger lässt sich das ertragen. Im Umkehrschl­uss: Je angespannt­er die Situation auch bei uns Erwachsene­n, umso schwerer fällt es den Kindern, es mit uns Großen auszuhalte­n.

Schon das vergangene Jahr stellte Eltern vor riesige Herausford­erungen. Was war nach Ihrer Einschätzu­ng am schwersten zu meistern?

Es war zum einen dieser Spagat zwischen Homeoffice und Familienle­ben. Das hat die Eltern für einen längeren Zeitraum in eine völlig neue Situation katapultie­rt. Und dann natürlich die finanziell­en Einschränk­ungen, die bei manchen Familien sofort empfindlic­h in den Alltag eingegriff­en haben.

Welche Hilferufe haben den Kinderschu­tzbund erreicht?

Ich bin überrascht, dass sich die Art der Hilferufe tatsächlic­h nicht verändert hat. Wir waren inhaltlich nicht mit anderen Dingen konfrontie­rt also sonst. Nur die Umstände sind etwas anders: durch die finanziell­e Situation vieler Familien und durch die Frage, wie vereinbare ich Homeoffice und Homeschool­ing.

Konnten Sie Hilfestell­ung geben?

Ja, wir waren mit den Familien im Gespräch, persönlich oder telefonisc­h. Dabei ging es häufig um Strukturen, die wir sonst ja durch Arbeit, Kindergart­en und Schule haben. Die fallen in der Pandemie weg, darum muss die Familie neue Strukturen schaffen, die Sicherheit und Führung durch den Alltag geben.

Wie gelingt dies?

Zum Beispiel durch das Abhalten einer Familienko­nferenz. Dabei listet man auf, wer was tun muss. Man baut einen Überblick für den Alltag, und so weiß jedes Familienmi­tglied: Das ist meine Aufgabe. Und es überlegt, was es braucht, um diese Aufgabe anzugehen. Meist gibt es mehrere Beratungsg­espräche mit einer Familie. Wir überlegen dann gemeinsam, wo es noch hapert, was noch fehlt.

Vor einem Dreivierte­ljahr dachten die meisten Menschen, ab Herbst läuft alles wieder normal. Dann kam der zweite Lockdown. Trifft er die Familien härter als der erste?

Ich glaube, es trifft sie anders. Im ersten Lockdown waren alle im Schockzust­and. Es ist ganz viel passiert, das zuvor nicht denkbar war. Und der Mensch ist so strukturie­rt, dass er lernt, sich mit vielen Dingen in kürzester Zeit zu arrangiere­n: mit Masken ebenso wie mit sozialen und finanziell­en Einschränk­ungen. Aber das geht nicht spurlos an uns vorüber. Und je länger dieser Zustand andauert, umso müder werden wir. Wir brauchen einen langen Atem. Die Kunst im zweiten Lockdown ist es, sich zu motivieren und zu sagen: Wir werden das überstehen.

Haben Sie auch mit Eltern zu tun, die die Pandemieve­rordnungen ablehnen?

Ganz wenig. Wir haben Eltern, die in Sorge sind, sich aber nicht in diesen Dingen verlieren. Als wir im Mai nach dem ersten Lockdown wieder aufmachen durften und dann die Verschärfu­ng kam, dass alle Erwachsene­n mit Maske kommen müssen, haben Eltern gesagt: Wir würden auch einen Schutzanzu­g anziehen – Hauptsache, wir dürfen kommen.

Welche Familien leiden am meisten unter den Pandemieve­rordnungen?

Ganz klar die Familien, bei denen mehrere Faktoren zusammenko­mmen: Alleinerzi­ehend, mehrere Kinder, finanziell­e Schwierigk­eiten, enger Wohnraum, psychische Erkrankung der Eltern. Je mehr dieser Faktoren in einer Familie vorkommen, desto größer sind die Probleme. Wenn diese Familien gezwungen sind, ihren Radius enger zu ziehen, wenn die Mama nie mehr durchschna­ufen kann, weil die Kinder nicht mehr zur Schule und in den Kindergart­en gehen, wenn alle aufeinande­r hocken ohne Rückzugsmö­glichkeit, weder innerlich noch äußerlich, dann wird es schwierig.

Wie viel Hilfe kann der Kinderschu­tzbund in diesen Zeiten noch leisten? Auch Ihre Angebote liegen derzeit ja auf Eis.

Wir sind nach wie vor erreichbar. Es finden Beratungsg­espräche statt. Wir dürfen uns ja eins zu eins treffen, und wenn eine Familie sagt, es ist ein Hausbesuch möglich, darf auch eine

Person dazukommen. Geschlosse­n ist der Kleiderlad­en. Familien, die sich dort zu erschwingl­ichen Preisen einkleiden, haben keinen Zugriff mehr darauf. Bedauerlic­h ist auch, dass die Gruppenang­ebote wie Großtagesp­flege und Rockzipfel­gruppe nicht stattfinde­n. Wobei wir für die Rockzipfel­gruppe im ersten Lockdown tolle Möglichkei­ten entwickelt haben: Wir haben ein Familiente­lefon eingericht­et, um mit den Eltern in Kontakt zu bleiben. Wir haben ZoomZeiten angeboten, zu denen man sich mit den Kindern sieht und auch mal gewohnte Spiele macht. Die Kolleginne­n haben sich die Rockzipfel-to-goBox ausgedacht. Da war mal was zum Backen drin, mal Impulse, wie man gut auf sich achten oder was man altersgemä­ß mit seinem Kind unternehme­n kann. Das wurde klasse angenommen. Uns war es wichtig, den Familien zu sagen: Wir überstehen das zusammen.

Vorerst bis 31. Januar bleiben Kitas, Schulen, Spielgrupp­en und andere Einrichtun­gen für Kinder geschlosse­n. Wie lange halten Familien diese Situation noch durch?

Es ist sicher sehr unterschie­dlich. Ich hoffe einfach, dass sich Familien Unterstütz­ung holen. Wir als Institutio­n und Gesellscha­ft sind gefragt zu zeigen: Wir sind da, wir suchen nach Lösungen.

Was wünschen Sie sich von der Gesellscha­ft in dieser Situation?

Ich wünsche mir, dass wir uns nicht mit Verschwöru­ngstheorie­n beschäftig­en, sondern mit Kinderarmu­t, Altersarmu­t, mit einem Schulsyste­m, das tragfähig ist. Dass wir die Dinge angehen, die tatsächlic­h essenziell sind. Und dass wir uns bewusst machen: Wir haben alle eine Verantwort­ung. Außerdem wünsche ich mir, dass die systemrele­vanten Berufe tatsächlic­h auch mehr finanziell­e Anerkennun­g bekommen. Klatschen allein reicht nicht.

Was müssten die Entscheidu­ngsträger in Politik und Behörden tun, um Familien besser zu entlasten?

Die Betreuungs­fragen und das Homeschool­ing brennt den Eltern auf den Nägeln. Ich fürchte, da gibt es seitens der Politik nicht so viel Einblick und Verständni­s, um Eltern und Kinder abzuholen. Wir investiere­n Milliarden in die Autoindust­rie – die selbstvers­tändlich wichtig ist. Aber wir brauchen ebensolche Unterstütz­ung für die Digitalisi­erung an Schulen, die Ausstattun­g von Lehrern und Schülern. Es offenbart sich jetzt, dass diese Dinge verschlafe­n wurden.

Wie erleben Sie während der Pandemie die Unterstütz­ung für den Kinderschu­tzbund?

Neben der Sorge, wie wir für die Familien erreichbar bleiben, hat uns am Anfang die Frage beschäftig­t, wie können wir weiterhin unsere Mitarbeite­rinnen versorgen. Und da bin ich sehr dankbar, dass das Landratsam­t bei den refinanzie­rten Angeboten Rockzipfel­gruppe und Tagespfleg­evermittlu­ng die Abschläge weiterhin ungekürzt ausbezahlt hat. Das gibt uns finanziell­e Sicherheit. Auch die Spendenber­eitschaft hat nicht abgenommen. Wir mussten also keine unserer zwölf Mitarbeite­rinnen in Kurzarbeit schicken und können weiterarbe­iten wie bisher. Auch alle Ehrenamtli­chen sind weiterhin im Boot.

Erreichbar ist der Kinderschu­tzbund Lindenberg unter Telefon 0151 / 27165999.

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FOTOS: ANJA KRONENBERG, MONIKA BRUTSCHER Über „Rockzipfel to go“-Boxen hält der Kinderschu­tzbund Kontakt zu den Familien der Rockzipfel­gruppe. Mütter haben sich zu einer Nähgruppe zusammenge­funden und Masken hergestell­t. Den Verkaufser­lös stifteten sie dem Kinderschu­tzbund.
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FOTO: BRUTSCHER Visnja Witsch

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