Wer nicht mitarbeiten kann, hat verloren
Der Integrationsfachdienst Schwaben betreut Menschen, die durchs Raster fallen
- Wenn Menschen nicht mit den Ansprüchen der Arbeitswelt klarkommen, brauchen sie Hilfe. Zwei Frauen helfen Menschen in Lindau bei der Wiedereingliederung in das Berufsleben und bei der Sicherung des Arbeitsplatzes. Warum Corona die Situation noch verschärft.
Wenn jemand seinen Urlaub nicht wochenweise, sondern immer mittwochs nimmt, dann sei es eigentlich schon zu spät, sagt Annette BreuLanzendorfer. Denn dann stehe er die Arbeitswoche nicht durch. „Das ist ein typisches Anzeichen, dass jemand mit seiner Arbeit überfordert ist“, sagt Breu-Lanzendorfer. Ein Signal für ein Burnout-Syndrom, das im Umkehrschluss eine Depression ist.
Zwischen 130 und 150 Betroffene aus dem Landkreis betreuen Annette Breu-Lanzendorfer und ihre Kollegin Felicia Straßner vom Integrationsfachdienst (ifd) Schwaben in Lindau im Jahr. Fast zwei Drittel davon leiden an psychischen Erkrankungen. Persönlichkeitsstörungen, aber auch körperliche Krankheiten wie Krebs oder orthopädische oder neurologische Krankheiten, zum Beispiel Multiple Sklerose, kommen häufig vor. Oft sei es auch eine Mischung aus beidem. „Körperliche und psychische Erkrankungen bedingen sich gegenseitig“, sagt BreuLanzendorfer. Langzeitbetreuung bräuchten um die 60 Personen.
Viele der Betroffenen, mit denen die beiden Frauen arbeiten, bekamen ihre Krankheit erst im Laufe ihres Lebens. Anfangs hätte es vielleicht noch gut geklappt, die Krankheit mit dem Berufsleben zu vereinbaren. „Dann irgendwann kommt es zur Belastung“, sagt Breu-Lanzendorfer. Es gehe dann erst einmal darum, die Krankheit zu akzeptieren – und sich im Anschluss Hilfe zu holen. Teilweise würde sich der Arbeitgeber an die Hilfsstelle wenden, teilweise der oder die Betroffene selbst. Öfter komme aber Letzteres vor.
„Der Höhepunkt ist meistens im Alter von 50 oder 60 Jahren“, sagt Breu-Lanzendorfer. Unter 40 sei kaum jemand. Interessant hier: Männer und Frauen gehen oft unterschiedlich mit der Situation um. „Ein Mann würde versuchen, es mit sich alleine auszumachen, erst später Hilfe suchen“, sagt Breu-Lanzendorfer. Männer definierten sich häufig über ihre Leistung, und Versagen wäre dann ein „Armutszeugnis.“Frauen knüpften eher soziale Netze knüpfen und suchten sich so Hilfe. Bei einer psychischen Krankheit, wie einer
Depression, ist der Fall oft komplizierter als zum Beispiel bei einer körperlichen. Bei Letzterem geht es um die Fragen: Gibt es Fördermöglichkeiten? Kann der Arbeitsplatz besser ausgestattet werden? Oft helfe schon ein höhenverstellbarer Schreibtisch. Oder wenn jemand gebärdet, brauche er eben einen Gebärdendolmetscher, sagt Straßner. „Das ist ein Problem, das man schneller lösen kann.“Jeder könne es sehen und es auch schnell akzeptieren. Bei psychischen Erkrankungen sei das anders. „Das sieht man dem Betroffenen nicht an, man kann ja nicht in die Person hineinschauen.“Das Verständnis bei Kollegen sei dann auch weniger da.
Seit 20 Jahren ist Annette BreuLanzendorfer
Arbeitgeber sind seit 2004 verpflichtet, länger erkrankten Beschäftigten ein sogenanntes betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) anzubieten. So soll gesichert sein, dass bei frühem Eingreifen der Arbeitsplatz erhalten bleiben kann. Ist ein Beschäftigter innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, muss der Arbeitgeber ein BEM anbieten. Das bedeutet, es muss geklärt werden, was der Betroffene braucht, um seine Arbeit ausführen zu können. Annette BreuLanzendorfer
die Ansprechpartnerin des Integrationsdienstes Schwaben in Lindau, seit September wird sie von Felicia Straßner unterstützt. Denn: Über die Jahre ist der Bedarf gestiegen.
Und auch die Pandemie, so vermuten die beiden Frauen, wird mehr Arbeit bringen. „Wie groß der Andrang dadurch ist, wird sich im Frühjahr zeigen“, glauben sie.
Ängste um den Arbeitsplatz und Ungewissheit – Gefühle, die mit der Pandemie einhergehen und die Probleme von kranken Menschen verstärken. Dadurch, dass viele in Kurzarbeit sind, fielen feste Strukturen, die der Arbeitsplatz gegeben hat, weg. Davon betroffen seien zum Beispiel
und Felicia Straßner vom Integrationsfachdienst Schwaben (ifd) stellen fest, dass sich das Gesundheitsmanagement in den Firmen über die Jahre verbessert hat.
Oft gebe es mittlerweile einen Schwerbehindertenbeauftragten und auch Betriebsärzte, die das Thema im Blick haben. „Umso enger wir mit dem Betriebsarzt in Kontakt stehen, umso besser klappt die Umsetzung in den Firmen“, sagen die Expertinnen. Zum Beispiel was die Wiedereingliederung angehe. (rst)
Menschen, die in der Gastronomie arbeiten. Hotels und Restaurants hatten im vergangenen Jahr für viele Wochen geschlossen, und auch aktuell ist alles zu. „Die Wiedereingliederung ist dann sehr schwer“, sagt Breu-Lanzendorfer. Oft steckten die Leute in der Warteschleife und müssten „hoffen und bangen.“Außerdem gehe die Tendenz dahin, eher Mitarbeiter loszuwerden, die krank sind. Denn: „Die, die da sind, müssen funktionieren.“
Auch Schichtarbeit könne vor allem für psychisch kranke Menschen ein Problem sein, weil die Kontinuität fehle. Allerdings verlangten genau diese viele Betriebe wieder verstärkt. Das liege an Lieferketten, so Breu-Lanzendorfer. Wenn verhindert werden soll, dass Teile gelagert werden, weil das wiederum kostete, müsse „Just-in-time“, also punktgenau, produziert werden. Das wiederum bedinge eine genaue Taktung und in der Folge einen Schichtplan.
Aber: „Der Druck auf die Firmen ist natürlich auch da“, sagt Breu-Lanzendorfer. Als Beispiele nennt sie Automobilzulieferer oder die Lebensmittelindustrie.
Aber ausbaden müssten es dann die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Müssen die regelmäßig Medikamente nehmen, sei das schwer vereinbar mit den unregelmäßigen Arbeitszeiten. Für Epileptiker, die keinen regelmäßigen Tag-Nacht-Rhythmus haben, sei das gefährlich. „Das sehe ich mit Sorge“, sagt Annette Breu-Lanzendorfer. Denn dann würde Arbeit krank machen.
Leidet jemand unter einer Depression, sei es sehr wichtig, dass der Arbeitgeber informiert ist, sagt Sozialpädagogin Felicia Straßner. Ein typischer Fall: Jemand war lange krank, ist wieder zurück am Arbeitsplatz und traut sich nicht, mit dem Chef zu sprechen. „Wir führen dann gemeinsam das Gespräch und schauen, welche Möglichkeiten es gibt“, sagt Breu-Lanzendorfer. Denn: Nur wenn alle Bescheid wissen, könne Akzeptanz geschaffen werden. „Es ist wichtig, dass die Person nicht als faul abgestempelt wird“, sagt Straßner. Ziel sei es immer, jemanden so gut es geht wieder einzugliedern.
„Wir sind eine Leistungsgesellschaft, und wer nicht mitarbeiten kann, hat verloren“, sagt Breu-Lanzendorfer.
Betroffene sähen dann jüngere Kollegen und Kolleginnen, verglichen sich und merkten, dass sie nicht mithalten können. Die Idee von „Haus, Auto, Kinder und Urlaub“sei bei vielen als Idealvorstellung verankert, die man auch für das eigene Leben erfüllen will. Wer dem nicht standhalten kann, sehe sich als Verlierer. Das sei fatal.
Wer Hilfe braucht und sich beraten lassen möchte, erreicht den ifd-Schwaben in Lindau unter der Telefonnummer 08382 / 220 43.