Gesucht: Leihoma für Krisenzeiten
Seit zehn Jahren unterstützen Ehrenamtliche in Kempten Familien – Wegen Corona sind Helfer abgesprungen
(sho) - So schön das Leben als Familie auch sein kann: Es bietet eine Vielzahl an potenziellen Stressauslösern. Das gilt erst recht, wenn zusätzliche Herausforderungen auftauchen – seien es eine Trennung, Probleme in der Schule oder fehlende Unterstützung etwa durch Großeltern. Diesen Familien Luft zu verschaffen – das ist seit zehn Jahren das Ziel der ehrenamtlichen „Familienpaten“. Jedoch: In Kempten gibt es viel mehr Anfragen als Helfer. Die Corona-Krise hat die Situation weiter verschärft.
Eine der Ehrenamtlichen ist Christa Merk. Die 65-Jährige macht seit einem Jahr beim Projekt des Kinderschutzbundes mit. Während dieser Zeit half sie bereits mehreren Familien – immer nur einer Familie gleichzeitig und einmal pro Woche. So brachte sie etwa ein Mädchen wöchentlich zu ihren Arztterminen. Oder spielte regelmäßig zwei Stunden mit zwei kleinen Zwillingsbuben, damit deren große Schwester die Mama zumindest einmal pro Woche nur für sich hatte. Die Mutter dieser Kinder habe sich „oft zerrissen“, die große Tochter sei dennoch zu kurz gekommen, sagt Merk. Durch ihre Besuche verschaffte sie der Mutter Zeit – und damit der ganzen Familie Entlastung. So komme jeder eher „zu seinem Recht“, sagt Merk.
Laut dem Kinderschutzbund in Kempten gibt es Zeiten, in denen in Familien „einfach alles zu viel wird“und der Alltag keine Freiräume mehr zulässt. Durch die Entlastung von außen werde das Familienleben wieder gelassener und humorvoller. Weil die Paten ehrenamtliche Laien sind, nehme der Kinderschutzbund keine „jugendamtsrelevante Familien“an, etwa mit psychisch schwer erkrankten Eltern, sagt Koordinatorin Almut Klotz. Gleichzeitig gehe es nicht um schlichtes „Babysitten“. Die Familien hätten häufig Trennungen hinter sich, Mehrlingsgeburten, keine greifbaren Großeltern oder besonders viele Kinder, sagt Klotz. Vorbereitet werden die Helfer durch eine Schulung.
Wegen Corona wurde diese immer wieder verschoben. Nun wird sie wohl online durchgeführt. Denn wegen der Ansteckungsgefahr sei etwa die Hälfte der meist älteren Ehrenamtlichen ausgestiegen. Gleichzeitig steige der Bedarf vieler Familien. Paradox: Ist ein Elternteil komplett für die Kinder zu Hause, ist der Stress oftmals besonders hoch – weil kein Anspruch auf Notbetreuung besteht. Ein bis zwei Familien fragen im Schnitt wöchentlich an, sagt Klotz. Mangels Helfern müsse sie diesen derzeit oftmals absagen.
Sind die Helfer im Einsatz, werden sie weiter begleitet – etwa durch regelmäßige Treffen und Gespräche mit einer Psychologin. Dann kommen Probleme auf den Tisch, etwa wenn sich Ehrenamtliche ausgenutzt fühlen. Eine Mitstreiterin von Merk habe deshalb bereits eine Patenschaft aufgegeben. Dass das Verhältnis von beiden Seiten stimmt, sei von Anfang an wichtig, sagt Merk. Immerhin setze sie ihre Freizeit ein. „Ich stresse mich ganz sicher nicht – es klappt, oder eben nicht.“
Während ihres Berufslebens habe die ehemalige Hebamme immer wieder problematische Familien erlebt, bei denen sie das Gefühl hatte: „Ich muss das Baby mitnehmen.“Heute helfe sie, dass es gar nicht erst so weit kommt: „Wenn man sieht, wie sehr man einer Familie mit zwei Stunden bereits Gutes tun kann – das ist eine tolle Geschichte.“Auch sie selbst profitiere davon. „Mir ist es ein Herzensanliegen, dass Kinder glücklich sind.“Merks eigene Enkel leben im Ausland. Für ihre Patenfamilien sehe sie sich als „Leihoma“. „Mir ist es gut ergangen im Leben“, sagt die 65-Jährige. „Jetzt möchte ich etwas zurückgeben.“
Kontakt: Wer sich auch als Familienpate engagieren will, wendet sich an den Kinderschutzbund Kempten unter der Telefonnummer 0831 / 14322 oder per E-Mail an familienpaten@kinderschutzbund-kempten.de