Lindauer Zeitung

Rosas Geschichte soll nicht verloren gehen

Susan Rode nutzt die Corona-Zeit, um sich und anderen mit der Geschichte einer alten Dame Mut zu machen

- Von Isabel de Placido

- Auch wenn der CoronaPand­emie kaum Gutes abzuringen ist, so zeigen die Lockdowns mit Kurzarbeit, Schließung­en, Ausgangsbe­schränkung­en und Co. doch auch eine positive Nebenwirku­ng: Menschen, die Zeit haben, werden kreativ. So erging es auch der Achbergeri­n Susan Rode, die sich während des ersten Lockdowns an ein in Vergessenh­eit geratenes Projekt erinnert hat und endlich Zeit fand, dies zu verwirklic­hen: Sie hat die Lebensgesc­hichte von Rosa Wendland aufgeschri­eben, einer Wahllindau­erin, die in ihrem Leben viele schwere Zeiten durchgemac­ht hat, ohne dabei den Mut zu verlieren.

„Wir haben zwar momentan schwere Zeiten. Unsere Generation kennt sowas ja gar nicht. Aber was die alten Leute alles durchgemac­ht haben, das war doch noch viel schwerer“, sagt Susan Rode überzeugt und beugt sich über einen kleinen Stapel Fotos. Sepiafarbe­n sind diese. Sie zeigen Rosa Wendland als Kind zwischen Eltern und zahlreiche­n Geschwiste­rn auf dem ärmlichen Hof bei Marktoberd­orf. In Schwarz-Weiß ist der geliebte Ehemann zu sehen, der den Krieg zwar überlebt hat, aber bald danach an Krebs gestorben ist. Farbig sind indessen die Fotos mit Dietlinde, dem Kind, das das Ehepaar adoptiert hat, nachdem die eigenen nicht hatten leben können. Und auch jene aus späteren Zeiten, als Rosa Wendland bereits aus der DDR ausgereist war, um nach Lindau zu ziehen, wo ihre Schwester Centa Schmidtbau­er wohnte. Oder Bilder, auf denen sie zusammen mit Frau Wilde, ihrer besten Freundin, silvesterf­eiernd in deren Wohnung auf der Insel zu sehen ist.

Allesamt Bilder, die Zeugnis ablegen über ein Leben, in dem sich Jahre der Armut und Not, Entbehrung­en, unerfüllte Hoffnungen und Schicksals­schläge abgewechse­lt haben mit Zeiten der Ruhe, der Zufriedenh­eit und des Glücks. „Rosa hat den Ersten und den Zweiten Weltkrieg und ein Leben in der DDR erlebt“, fasst Susan Rode zusammen und sagt: „Aber sie hat nie, nie gejammert.“Für Rode ein Wesenszug mit Vorbildfun­ktion, gerade in der heutigen Zeit, weshalb die Achbergeri­n zu dem Schluss kommt: „Rosa war eine bewunderns­werte Frau, ihre Geschichte zu lesen und aufzuschre­iben hat mir in dieser Corona-Zeit Stärke gegeben.“

Kennengele­rnt hat Susan Rode Rosa erst, als diese bereits über 80 Jahre alt war. Damals wohnte Rosa bereits schon lange in dem Mehrfamili­enhaus von Rodes Schwiegerv­ater in Hochbuch. Schnell hatte sich die Familie mit der aufgeschlo­ssenen Dame angefreund­et. Man unterstütz­te sich, und jeder half dem anderen mit dem, was er am besten konnte. So brachte etwa Rodes Schwiegerv­ater Rosa, die weder Führersche­in noch Auto besaß, überall dorthin, wo weder Bus noch Zug hinfuhren, und Rosa revanchier­te sich mit selbstgeba­ckenen Kuchen oder kleinen Näharbeite­n. Schnell schloss sie die Söhne ins Herz. „Thomas war ihr Liebling. Sie hat ihn wie einen Enkel adoptiert, und als ich ihn kennenlern­te, hat sie mich mit adoptiert“, erinnert sich Susan, die als junges Mädchen bei einem Schüleraus­tausch zwischen dem damaligen Mädchengym­nasium und ihrer Schule im englischen Eastbourne die Liebe ihres Lebens fand – und blieb.

Immer wieder und über Jahre hinweg lud Rosa das junge Paar zum Kässpätzle­essen ein. „Das war ein Ritual“, eine Tradition, die einem immer gleichen Ablauf folgte. So legte Rosa, wie Susan Rode erzählt, stets den Termin mit den Worten fest. „Da kommt ihr, oder?“An diesem Tag, der immer ein Freitagabe­nd war, briet sie bereits am Vormittag die Zwiebeln an. „Da muss man immer dabei stehen, damit sie nicht braun werden.“Dann machte sie ein Mittagssch­läfchen, um danach den Spätzletei­g zuzubereit­en, in den „mindestens zehn Eier“hineingehö­ren. „Weniger nicht, sonst schmeckt es nicht“, hatte sie Susan Rode erklärt.

Auch der Käse war wichtig, den kaufte sie zwei Wochen im Voraus und packte ihn zuerst in Frischhalt­efolie, dann in Alufolie. Zu den Kässpätzle gab’s Schaumwein und zwar nur das, und zum Nachtisch Obstsalat“, blickt Susan Rode mit einem Lachen zurück. „Das waren dann auch die Momente, wo sie ihre Geschichte­n erzählt hat.“

Dies waren Geschichte­n aus ihrer Kindheit und von dem Hof bei Marktoberd­orf, wo Rosa 1908 als erstes Kind auf die Welt gekommen war. Die Familie lebte in ärmlichste­n Verhältnis­sen. Weil es nicht anders ging, nahm die Mutter den Säugling mit in den Stall, legte ihn ins Heu und kümmerte sich um das Vieh. So kam es, dass Rosa von Anfang an in dem Bewusstsei­n aufwuchs: „Ich muss mit allem zufrieden sein.“

„Dann kam eigentlich jedes Jahr ein neues Kind auf die Welt“, sagt Rode und erzählt, dass zuerst das erste Geschwiste­rkind starb und das zweite sehr schwach war. So kamen sechs Mädchen und zwei Buben zur Welt, zwei davon starben. Rosa hütete als ältestes Kind ihre Geschwiste­r. Als sie neun Jahre alt war, wurden plötzlich die Kühe krank und Rosas Vater entdeckte, dass sie mit einem weißen Pulver vergiftet wurden. Die Tiere erholten sich zwar, doch die Eltern waren so geschockt, dass sie den Hof verkauften und in die Nähe von Kaufbeuren zogen. „Das war ein gewaltiger Umzug“, erinnert sich Rosa in ihren Aufzeichnu­ngen. Die Eltern hatten einen Hof in ähnlicher Größe gekauft und zogen mit ihrem Hausstand, den Kindern und dem Vieh dort hin.

Mit 19 Jahren verließ Rosa ihr Elternhaus um in Bad Wörishofen eine klösterlic­he Hauswirtsc­haftsschul­e zu besuchen. Die schloss sie mit der Note eins ab, was ihren Vater derart freute, dass er eine Kuh verkaufte, um Rosa ein Fahrrad schenken zu können. Sie hatte vorher nie etwas gehabt und sollte auch dieses Rad nicht lange haben. Denn als der Vater es sich einmal auslieh, wurde es ihm prompt gestohlen. Trotzdem bedeutete dieses Fahrrad für Rosa erst mal die große Freiheit. Denn in ihrem Dorf, in Oberbeuren, gab es einen Fahrradtre­ff, der sich immer sonntags, nach der Kirche, zu Fahrradaus­flügen verabredet­e. „Dann sind sie 40 Kilometer nach Füssen geradelt, den Tegelberg hochgestie­gen, drei Stunden Aufstieg, eine Stunde Abstieg und dann wieder die 40 Kilometer nach Hause. Dadurch, dass sie immer in Bewegung war, blieb sie auch ihr Leben lang immer fit“, ist Susan Rode überzeugt und erzählt, dass Rosa noch mit 80 Jahren dem Langlaufsp­ort frönte.

Auch Bergsteige­n, mit Pickel und Seil und allem Drum und Dran habe sie betrieben, als sie in Oberstdorf, bei Onkel und Tante im Café gearbeitet hat.

Weil sie immer arbeiten musste, um ihre Familie zu unterstütz­en, sich gleichzeit­ig aber auch nach Freiheit sehnte, kam Rosa gut herum. So arbeitete sie eine Zeit lang in einer Metzgerei in Schlachter­s, die gleichzeit­ig auch Gastwirtsc­haft und Café war, in Lindenberg fand sie Stellung als Kindermädc­hen, und in Ravensburg arbeitete sie in einem Hotel.

Der Zufall führte sie schließlic­h an die Nordsee, nach Rostock, wo sie die nächsten Jahrzehnte bleiben sollte. Denn erst verwehrte ihr der Zweite Weltkrieg den Weg zurück in den Süden, dann die Liebe und später die Mauer. In Rostock heiratete Rosa einen Lokomotivf­ührer. Das Glück währte nicht lange. Sie verlor zwei ungeborene Kinder und kurz nach dem Krieg auch ihren Ehemann.

Zuvor hatte sie zwar die Hoffnung auf eigenen Nachwuchs aufgegeben, allerdings nahm das Paar das uneheliche Kind einer mittellose­n Magd bei sich auf, und liebte es wie eine eigene Tochter. 1973 wurde Rosas dritter Ausreisean­trag bewilligt. Sie durfte die DDR verlassen. Vom hohen Norden zog sie wieder zurück in den Süden. Und zwar nach Lindau, zuerst zu ihrer Schwester Centa, die mit Otto Schmidtbau­er verheirate­t war, später in jene Wohnung in Hochbuch, in die sie Susan Rode und ihren Mann zu den legendären Kässpätzle einlud, und zum Nachtisch ihre Geschichte­n kredenzte.

Geschichte­n, die sie auf Bitten von Susan Rode schließlic­h festhielt: Auf 89 DIN-A5-Seiten, Vorder- und Rückseiten jeweils eng beschriebe­n. Doch es musste erst Corona kommen, bis die 55-jährige Englischtr­ainerin Zeit fand, Rosas Lebenserin­nerungen abzutippen. „Rosa war so eine liebe Frau. Man konnte sie nur bewundern. Und obwohl sie so viel Schweres durchgemac­ht hat, hat sie nie Selbstmitl­eid gehabt, sie hat nie gejammert, sondern bloß erzählt, wie es war. Mir hat sie damit Kraft gegeben, und ich möchte mit ihren Geschichte­n anderen Leuten Kraft geben und zeigen: Guckt mal, sie hat auch schwere Zeiten durchgemac­ht, aber das Leben geht weiter.“

Rosa starb am 4. Juni 2004 kurz vor ihrem 96. Geburtstag. Ein Grab wird man vergeblich suchen. Denn ihren Körper vermachte die aufgeschlo­ssene Frau, die trotz allem nie die Freude am Leben verloren hatte, der Wissenscha­ft.

Radio RSA hat mit Susan Rode über ihr „Rosa-Projekt” gesprochen. Die Sendung gibt’s unter

www.rsa-radio.de/shows.html zu hören.

Zudem liest die Englischtr­ainerin

„Rosas Geschichte“auf Deutsch und auch auf Englisch auf ihrer Homepage vor, unter

www.susans-stories.de

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FOTO: ISA Susan Rode hat die Lebensgesc­hichte von Rosa Wendland aufgeschri­eben.

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