„Besonders alleinstehende Personen leiden“
Alexandra Markert über das Dilemma von Berührungen während der Pandemie
- Mindestens 1,5 Meter Abstand, Berührungen vermeiden, keine Besuche bei älteren Verwandten. Während der Corona-Pandemie soll man den Mitmenschen nicht zu nahe kommen. Alexandra Markert arbeitet als Psychotherapeutin in Ottobeuren und erklärt im Gespräch mit Leonie Küthmann, wie sich der Berührungsmangel auf die Menschen auswirkt.
Frau Markert, warum sind Berührungen für Menschen so wichtig?
Das hat einen evolutionären Hintergrund. Menschen brauchen ein soziales System, um zu überleben – und dazu gehören Berührungen. Während ein Bär beispielsweise eher ein Einzelgänger ist, brauchen Primaten den Sozialverband, um die Überlebenschancen zu erhöhen.
Das heißt?
Man sieht das an unseren Jungen, den Babys. Sie sind anfangs total hilflos, können nicht wie Schildkröten einfach zum Meer laufen. Bei Menschen gibt es das sogenannte Bindungssystem, vor allem zwischen Mutter und Kind. Und da spielen Berührungen eine große Rolle, denn sie stärken die Beziehung.
Was passiert denn im Körper bei Berührungen?
Wir haben in der Haut unzählige Rezeptoren, die auf verschiedene Arten von Berührung reagieren und die entsprechenden Impulse an unser Gehirn weiterleiten, wo dann ein wohliges Gefühl ausgelöst wird. Dabei gibt es einen Vermittler, nämlich Oxytocin, das sogenannte Bindungshormon. Es verringert Ängste und reduziert Stress. Man spricht dabei auch von einer „Calm and Connecting Reaction“.
Aktuell sollen wir Menschen Berührungen aber vermeiden...
Genau, die Crux an der aktuellen Situation ist, dass Berührungen viele positive Effekte haben, man aber natürlich auch Viren überträgt. Es ist nachgewiesen, dass Menschen, die viel über Berührungen interagieren, ein besseres Immunsystem haben, seltener beim Arzt sind und auch länger leben.
Wen trifft denn der Berührungsmangel besonders?
Bei meinen Patienten bemerke ich, dass besonders alleinstehende Personen darunter leiden, da die Berührungen nahezu wegfallen. In der Familie umarmt man sich eben trotzdem – was auch okay und gut so ist. Wäre es so, dass alle den gleichen Berührungsmangel hätten, würden Kinder wohl am meisten darunter leiden. Erwachsene können das eher kompensieren.
Wie denn?
Man kann schon schummeln und sich andere Neurotransmitter zunutze machen. Durch mehr Sport wird beispielsweise Serotonin ausgeschüttet. Die Leute machen ja aktuell mehr Sport und aktuelle Studien zeigen, dass das auch hilft.
Und wenn man sportfaul ist?
Auch eine geregelte Tagesstruktur hilft, gerade, wenn man in Quarantäne ist. Sich Ziele zu setzen, ist gut. Räumt man beispielsweise den Keller aus, wird das Belohnungssystem aktiviert. Und dann sollte man trotzdem mit Menschen in Kontakt bleiben. Ich persönlich mag es auch nicht, zu skypen, aber es ist trotzdem wichtig, einfach, um zu wissen: Was ist bei den anderen so los? Außerdem kann man natürlich den Stress reduzieren.
Über?
Etwa über autogenes Training. Aber es hilft auch, wenn man – gerade weil die Berührungen in der aktuellen Situation wegfallen – lieb zu sich selbst ist: Man kann beispielsweise den Körper pflegen, ein Bad nehmen, eine schöne Tasse Tee trinken.
Viele Menschen haben sich in Corona-Zeiten ein Tier gekauft. Kann ein Haustier denn menschliche Berührung ersetzen?
Jein. Zunächst möchte ich sagen, dass ich auch Aspekte kritisch sehe, wenn man sich in Lockdown-Zeiten ein Tier zulegt – man sollte beispielsweise darauf achten, nicht den illegalen Welpenhandel zu unterstützen und auch an die Zeit nach dem Lockdown denken, wenn man vielleicht nicht mehr so viel Zeit übrig hat. Außerdem muss man sagen, dass nicht alle Tiere gerne kuscheln.
Und wenn das Tier das mag?
Dann hat das positive Effekte: Bei Mensch und Tier kann sich dann Stress reduzieren. Es gibt viele Studien mit Menschen und Hunden, die zeigen, dass auch diese Menschen eine höhere Lebenserwartung haben und gesünder sind. Wichtig ist bei der ganzen Sache eben, dass auch das Tier entspannt ist.
Anderes Thema: Gerade jungen Menschen wurde oft vorgeworfen, dass sie zu viel online unterwegs sind und weniger Wert auf reale Begegnungen und damit auch Berührungen legen. Hat die Pandemie gezeigt, dass solche Vorurteile vielleicht gar nicht stimmen?
Ich hatte dieses Vorurteil nie und bin daher gar nicht überrascht, dass auch die junge Generation unter der aktuellen Situation in der Corona-Pandemie leidet. Ich hoffe, dass die Pandemie dieses Vorurteil entkräftet hat.