„Fühle mich nicht berechtigt zu sagen: Mir ist kalt“
Acht Mitglieder der Fridays-for-Future-Bewegung protestieren mit einem Zeltcamp vor dem Alten Rathaus
- Zwei Tage lang haben Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays-for-Future Lindau ihre Zelte vor dem Alten Rathaus aufgeschlagen. Mit einer Reihe von Kundgebungen und der Zeltaktion machten sie unter dem Motto „Ein Wochenende für die Vergessenen – Kein PushBack ist legal!“auf die Situation der Geflüchteten und Menschenrechtsbrüche seitens der EU an den europäischen Außengrenzen aufmerksam.
Lange hatten die acht jungen Erwachsenen, darunter vier, die noch zur Schule gehen, diskutiert, ob gerade jetzt, in Zeiten der Corona-Pandemie, eine solche Aktion sinnvoll und durchführbar sei. „Da uns das Wohl aller Menschen – und somit auch jener, die an unseren Grenzen einfach zurückgelassen werden – am Herzen liegt“, wurde der Entschluss gefasst, erklärt Lilly von Puttkamer zu Beginn der Aktion. Schließlich spiele auch Corona eine wichtige Rolle in der ganzen Geschichte, wie bei den Beiträgen der Kundgebungen deutlich wird. Denn während hier ein Hygienekonzept durchgesetzt ist, das auf Abstand und Hygiene basiert, sei davon in den Lagern nichts umgesetzt, es fehlten jegliche Voraussetzungen dafür – und das durchaus willentlich, werfen die acht den Behörden vor, belegbar mit Berichten von Ärzte ohne Grenzen und anderen Hilfsorganisationen.
Die sechs jungen Frauen und zwei jungen Männer hingegen haben ein Hygienekonzept entwickelt, mit dem ihre Aktion durchführbar und von der Stadt und dem Landratsamt auch genehmigt wurde, auch die damit verbundene Ausnahme der nächtlichen Ausgangssperre. So achteten die acht genau auf Abstand beziehungsweise das Tragen von MundNasen-Schutz, den sie selbst nur zum Essen und Trinken ablegten, den aber auch die Besucher der Kundgebungen oder des Camps tragen mussten. Zudem waren Besucher aufgefordert, nach den Kundgebungen den Platz wieder zu verlassen. Trotzdem: Zu den Kundgebungen versammelten sich doch bis zu 30 Menschen, die mit Maske sicheren Abstand voneinander wahrten.
Nun sollte das Zeltcamp keineswegs die Situation der Geflüchteten nachzeichnen. „Das geht ja gar nicht“, betont Laurin Maier, der mit seiner Schwester Emily dabei ist. „Wir sind ja hier in einer derart privilegierten Situation, wir haben warme Schlafsäcke, Isomatten, Zugang zu sanitären Anlagen, warme Speisen und heißes Wasser für Tees“, stellt er fest. In keinster Weise spiegle das hier wieder, was in den Lagern los sei. Das betont zum Abschluss der letzten Kundgebung auch Lilly: „Es hat nicht geregnet und trotzdem ist uns kalt geworden“, trotz warmer Schlafsäcke, die die Geflüchteten ja auch nicht hätten. Also stellt sie die Frage: „Wie muss das sein, wenn man all dies nicht hat? Wenn man sich nicht aussuchen kann, nur eine Nacht in dieser Kälte und unter menschenunwürdigen Bedingungen zu verbringen? Sondern jede Nacht, jeden Tag so leben muss, so behandelt wird, so vergessen wird?“
Da stellen ja viele die Frage, warum die sich denn überhaupt in solche Situationen bringen würden. Da gab Thomas Nuding eine Antwort. Der Ingenieur aus Meßkirch ist als Kapitän von Rettungsschiffen bekannt geworden. Er sammelt Spenden für ein neues Schiff, das genau für die Bedürfnisse eines Rettungsschiffs gebaut werden soll: Schnell, um schnellstmöglich zu Booten zu kommen, die in Seenot geraten sind, große Reichweitentauglichkeit, um drei Wochen unterwegs sein zu können, gut ausgestattet, um bis zu 150 Menschen aufnehmen zu können und sie dabei medizinisch gut versorgen und ernähren zu können, dabei aber so klein, dass es mit dem Sportbootführerschein gefahren werden darf. Dafür hat Nuding „Sarah“gegründet, eine gemeinnützige Organisation, deren Gelder zunächst in den Bau dieses Schiffs gehen. Das 24 Meter lange und sieben Meter breite Schiff wird gut eine halbe Million Euro kosten, weitere 70 000 Euro für die Erstausstattung.
Vor einer Woche war er bei dem Protestcamp in Kempten, so knüpften Micah Heyse den Kontakt zu ihm, worauf er auch gerne an den Bodensee fuhr. Er führte die verschiedenen Fluchtursachen an, sparte dabei nicht an Kritik. Denn immer noch
Aktivist Laurin Maier würden Fliehende, die entweder wegen der Klimaveränderung oder wegen den Folgen der Ausbeutung der Ressourcen ihrer Länder fliehen, von der Internationalen Kommission für Menschrechte in Genf nicht anerkannt. Nuding machte klar, inwiefern die so genannte Erste Welt wie Europa die eigentliche Ursache sei, weshalb Menschen aus Afrika oder dem Nahen und Mittleren Osten fliehen müssten. „Die Wohlstandsgesellschaft lebt auf dem Rücken dieser Menschen“, so Nuding.
Ob es solche Beiträge waren oder Berichte und Briefe aus verschiedenen Lagern, die die dortige Situation vor Augen führten, es war kein Happening auf dem Bismarckplatz, zu ernst ist das Thema und zu ernsthaft die jungen Menschen, die das Protestcamp aufgeschlagen hatten. Stellt sich die Frage, was dieses Wochenende bei den Teilnehmern selbst bewirkt hat. Da wären zum einen die zahlreichen ermutigenden Gespräche mit Passanten, unter anderem mit Sibylle Gasch, die ihnen ein Gedicht überließ, in dem Europa angemahnt wird, seinen Aufgaben endlich nachzukommen und das am Sonntag bei der Abschlusskundgebung verlesen wurde. Laurin denkt lange nach: „Diese Aktion macht was mit einem, allein, dass man sich noch intensiver mit dem Thema befasst. Es ist klar, dass wir hier völlig privilegiert leben und unsere Camp-Aktion mit den Zuständen vor Ort nichts zu tun hat.“Und auf die Gruppe gerichtet, „muss es weitergehen, auch wenn die Gruppe sich ständig verändern wird“. Denn er wie auch andere werden wegen Studium oder Ausbildung von Lindau wegziehen, zumindest vorübergehend.
Auch Keona Schroff ist die privilegierte Situation klar: „Wir haben warmes Essen, warme Getränke bekommen, wir hatten warme Schlafsäcke“und zitiert weiter Gedanken einer Teilnehmerin des Kemptener Camps eine Woche zuvor: „Mir ist jetzt kalt, aber da merkt man erst, wie krass das ist. Ich fühle mich nicht berechtigt, zu sagen, mir sei kalt.“
„Ich glaube, wir leben hier in Lindau noch in einer glücklichen Blase“,
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„Diese Aktion macht
was mit einem.“
vermutet Micah, denn „wir erleben hier keinerlei Anfeindungen, wie es in anderen Städten geschieht bei derartigen Aktionen“. Die erlebten sie eher in den sozialen Medien, wo sich unter anderem darüber mokiert wurde, dass ja schließlich Ausgangssperre herrsche und das gefälligst für alle gelte. Die Diskussion auf Facebook ruft bei den Protestcampern nachdenkliches Kopfschütteln hervor und ein hartes Lachen auf die Frage: „Warum jetzt?“Einfache Antwort der acht: Weil es jetzt notwendig ist, jetzt frieren dort die Menschen und leiden unter unwürdigsten Bedingungen, was laut Thomas Nuding dem Friedensnobelpreisträger Europäische Union schwer anzulasten sei. Eigentlich sollte die EU sich selbst verpflichtet sein, sich diesen Preis jeden Tag aufs Neue zu verdienen, „das tun die EU-Politiker aber nicht“.
Und Lilly von Puttkamer stellt in der Abschlusskundgebung klar: „Jeder Mensch hat das Recht in Freiheit, Sicherheit und Würde zu leben.“Was Micah mit einem Forderungskatalog präzisiert. Kurzfristig werden darin sichere Fluchtwege und Unterstützung in den Zufluchtsländern gefordert, mittelfristig Wirtschaftsbeziehungen auf Augenhöhe und ein Ende der Neokolonialisierung der Länder, aus denen die Menschen flüchten und langfristig ein Ende von Nationalismus und Kapitalismus, damit eine solidarische Weltgemeinschaft über ihre Geschicke entscheiden könne.