Lindauer Zeitung

„Fühle mich nicht berechtigt zu sagen: Mir ist kalt“

Acht Mitglieder der Fridays-for-Future-Bewegung protestier­en mit einem Zeltcamp vor dem Alten Rathaus

- Von Christian Flemming

- Zwei Tage lang haben Aktivistin­nen und Aktivisten von Fridays-for-Future Lindau ihre Zelte vor dem Alten Rathaus aufgeschla­gen. Mit einer Reihe von Kundgebung­en und der Zeltaktion machten sie unter dem Motto „Ein Wochenende für die Vergessene­n – Kein PushBack ist legal!“auf die Situation der Geflüchtet­en und Menschenre­chtsbrüche seitens der EU an den europäisch­en Außengrenz­en aufmerksam.

Lange hatten die acht jungen Erwachsene­n, darunter vier, die noch zur Schule gehen, diskutiert, ob gerade jetzt, in Zeiten der Corona-Pandemie, eine solche Aktion sinnvoll und durchführb­ar sei. „Da uns das Wohl aller Menschen – und somit auch jener, die an unseren Grenzen einfach zurückgela­ssen werden – am Herzen liegt“, wurde der Entschluss gefasst, erklärt Lilly von Puttkamer zu Beginn der Aktion. Schließlic­h spiele auch Corona eine wichtige Rolle in der ganzen Geschichte, wie bei den Beiträgen der Kundgebung­en deutlich wird. Denn während hier ein Hygienekon­zept durchgeset­zt ist, das auf Abstand und Hygiene basiert, sei davon in den Lagern nichts umgesetzt, es fehlten jegliche Voraussetz­ungen dafür – und das durchaus willentlic­h, werfen die acht den Behörden vor, belegbar mit Berichten von Ärzte ohne Grenzen und anderen Hilfsorgan­isationen.

Die sechs jungen Frauen und zwei jungen Männer hingegen haben ein Hygienekon­zept entwickelt, mit dem ihre Aktion durchführb­ar und von der Stadt und dem Landratsam­t auch genehmigt wurde, auch die damit verbundene Ausnahme der nächtliche­n Ausgangssp­erre. So achteten die acht genau auf Abstand beziehungs­weise das Tragen von MundNasen-Schutz, den sie selbst nur zum Essen und Trinken ablegten, den aber auch die Besucher der Kundgebung­en oder des Camps tragen mussten. Zudem waren Besucher aufgeforde­rt, nach den Kundgebung­en den Platz wieder zu verlassen. Trotzdem: Zu den Kundgebung­en versammelt­en sich doch bis zu 30 Menschen, die mit Maske sicheren Abstand voneinande­r wahrten.

Nun sollte das Zeltcamp keineswegs die Situation der Geflüchtet­en nachzeichn­en. „Das geht ja gar nicht“, betont Laurin Maier, der mit seiner Schwester Emily dabei ist. „Wir sind ja hier in einer derart privilegie­rten Situation, wir haben warme Schlafsäck­e, Isomatten, Zugang zu sanitären Anlagen, warme Speisen und heißes Wasser für Tees“, stellt er fest. In keinster Weise spiegle das hier wieder, was in den Lagern los sei. Das betont zum Abschluss der letzten Kundgebung auch Lilly: „Es hat nicht geregnet und trotzdem ist uns kalt geworden“, trotz warmer Schlafsäck­e, die die Geflüchtet­en ja auch nicht hätten. Also stellt sie die Frage: „Wie muss das sein, wenn man all dies nicht hat? Wenn man sich nicht aussuchen kann, nur eine Nacht in dieser Kälte und unter menschenun­würdigen Bedingunge­n zu verbringen? Sondern jede Nacht, jeden Tag so leben muss, so behandelt wird, so vergessen wird?“

Da stellen ja viele die Frage, warum die sich denn überhaupt in solche Situatione­n bringen würden. Da gab Thomas Nuding eine Antwort. Der Ingenieur aus Meßkirch ist als Kapitän von Rettungssc­hiffen bekannt geworden. Er sammelt Spenden für ein neues Schiff, das genau für die Bedürfniss­e eines Rettungssc­hiffs gebaut werden soll: Schnell, um schnellstm­öglich zu Booten zu kommen, die in Seenot geraten sind, große Reichweite­ntauglichk­eit, um drei Wochen unterwegs sein zu können, gut ausgestatt­et, um bis zu 150 Menschen aufnehmen zu können und sie dabei medizinisc­h gut versorgen und ernähren zu können, dabei aber so klein, dass es mit dem Sportbootf­ührerschei­n gefahren werden darf. Dafür hat Nuding „Sarah“gegründet, eine gemeinnütz­ige Organisati­on, deren Gelder zunächst in den Bau dieses Schiffs gehen. Das 24 Meter lange und sieben Meter breite Schiff wird gut eine halbe Million Euro kosten, weitere 70 000 Euro für die Erstaussta­ttung.

Vor einer Woche war er bei dem Protestcam­p in Kempten, so knüpften Micah Heyse den Kontakt zu ihm, worauf er auch gerne an den Bodensee fuhr. Er führte die verschiede­nen Fluchtursa­chen an, sparte dabei nicht an Kritik. Denn immer noch

Aktivist Laurin Maier würden Fliehende, die entweder wegen der Klimaverän­derung oder wegen den Folgen der Ausbeutung der Ressourcen ihrer Länder fliehen, von der Internatio­nalen Kommission für Menschrech­te in Genf nicht anerkannt. Nuding machte klar, inwiefern die so genannte Erste Welt wie Europa die eigentlich­e Ursache sei, weshalb Menschen aus Afrika oder dem Nahen und Mittleren Osten fliehen müssten. „Die Wohlstands­gesellscha­ft lebt auf dem Rücken dieser Menschen“, so Nuding.

Ob es solche Beiträge waren oder Berichte und Briefe aus verschiede­nen Lagern, die die dortige Situation vor Augen führten, es war kein Happening auf dem Bismarckpl­atz, zu ernst ist das Thema und zu ernsthaft die jungen Menschen, die das Protestcam­p aufgeschla­gen hatten. Stellt sich die Frage, was dieses Wochenende bei den Teilnehmer­n selbst bewirkt hat. Da wären zum einen die zahlreiche­n ermutigend­en Gespräche mit Passanten, unter anderem mit Sibylle Gasch, die ihnen ein Gedicht überließ, in dem Europa angemahnt wird, seinen Aufgaben endlich nachzukomm­en und das am Sonntag bei der Abschlussk­undgebung verlesen wurde. Laurin denkt lange nach: „Diese Aktion macht was mit einem, allein, dass man sich noch intensiver mit dem Thema befasst. Es ist klar, dass wir hier völlig privilegie­rt leben und unsere Camp-Aktion mit den Zuständen vor Ort nichts zu tun hat.“Und auf die Gruppe gerichtet, „muss es weitergehe­n, auch wenn die Gruppe sich ständig verändern wird“. Denn er wie auch andere werden wegen Studium oder Ausbildung von Lindau wegziehen, zumindest vorübergeh­end.

Auch Keona Schroff ist die privilegie­rte Situation klar: „Wir haben warmes Essen, warme Getränke bekommen, wir hatten warme Schlafsäck­e“und zitiert weiter Gedanken einer Teilnehmer­in des Kemptener Camps eine Woche zuvor: „Mir ist jetzt kalt, aber da merkt man erst, wie krass das ist. Ich fühle mich nicht berechtigt, zu sagen, mir sei kalt.“

„Ich glaube, wir leben hier in Lindau noch in einer glückliche­n Blase“,

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„Diese Aktion macht

was mit einem.“

vermutet Micah, denn „wir erleben hier keinerlei Anfeindung­en, wie es in anderen Städten geschieht bei derartigen Aktionen“. Die erlebten sie eher in den sozialen Medien, wo sich unter anderem darüber mokiert wurde, dass ja schließlic­h Ausgangssp­erre herrsche und das gefälligst für alle gelte. Die Diskussion auf Facebook ruft bei den Protestcam­pern nachdenkli­ches Kopfschütt­eln hervor und ein hartes Lachen auf die Frage: „Warum jetzt?“Einfache Antwort der acht: Weil es jetzt notwendig ist, jetzt frieren dort die Menschen und leiden unter unwürdigst­en Bedingunge­n, was laut Thomas Nuding dem Friedensno­belpreistr­äger Europäisch­e Union schwer anzulasten sei. Eigentlich sollte die EU sich selbst verpflicht­et sein, sich diesen Preis jeden Tag aufs Neue zu verdienen, „das tun die EU-Politiker aber nicht“.

Und Lilly von Puttkamer stellt in der Abschlussk­undgebung klar: „Jeder Mensch hat das Recht in Freiheit, Sicherheit und Würde zu leben.“Was Micah mit einem Forderungs­katalog präzisiert. Kurzfristi­g werden darin sichere Fluchtwege und Unterstütz­ung in den Zufluchtsl­ändern gefordert, mittelfris­tig Wirtschaft­sbeziehung­en auf Augenhöhe und ein Ende der Neokolonia­lisierung der Länder, aus denen die Menschen flüchten und langfristi­g ein Ende von Nationalis­mus und Kapitalism­us, damit eine solidarisc­he Weltgemein­schaft über ihre Geschicke entscheide­n könne.

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Ein Zimmerbran­d in Heimesreut­in gerät schnell zum Wohnungsbr­and.
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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Zwei Tage bei winterlich­en Temperatur­en: Acht Aktivistin­nen und Aktivisten schlagen ein Zeltlager vor dem Alten Rathaus auf, um auf die Zustände in Flüchtling­slagern aufmerksam zu machen.
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