Sekundenbruchteile, die ein Leben verändern
Bei einem tragischen Unfall sterben 2018 im Oberallgäu zwei Menschen – Wer trägt die Schuld an dem Unglück?
(mig) - Manchmal sind es Bruchteile von Sekunden, die das Leben eines Menschen für immer verändern. Das musste ein 51-Jähriger erfahren, der im Oktober 2018 bei der Arbeit mit einem Radlader mit einem Auto kollidierte. Beide Insassen des Wagens starben bei dem Unglück. Seitdem leiden der Oberallgäuer und seine Frau, die am Unfallort war, unter dem traumatischen Erlebnis. Jetzt stand der Mann – über zwei Jahre nach dem Unfall – wegen fahrlässiger Tötung vor dem Amtsgericht Sonthofen. Und die Verhandlung kreiste um eine Frage: Wer trägt die Schuld an dem schrecklichen Unglück?
Nach fast dreistündiger Beweisaufnahme wurde das Verfahren gegen den 51-Jährigen eingestellt. Richter Johann Peter Schlosser und die Staatsanwältin waren sich einig, dass der Angeklagte nicht sorglos gehandelt hat – im Gegensatz zu dem beim Unfall getöteten Fahrer: Der war viel zu schnell und hatte über ein Promille Alkohol im Blut.
Zu dem tragischen Unglück kam es, als der 51-Jährige einer Freundin dabei half, Sägemehl zu einem Stall zu transportieren. Die Bekannte und seine Ehefrau halfen mit und wiesen den Oberallgäuer ein, weil dieser immer wieder mit dem Radlader rückwärts aus einem Privatgrundstück auf die Straße fahren musste. Doch der Unfall passierte an einer anderen Stelle, wo der Angeklagte das Baufahrzeug von einer Seiten- in die Hauptstraße lenkte. Als das Auto an den beiden Helferinnen vorbeiraste – und eine von ihnen fast erfasste, war es zu spät: Die beiden Frauen konnten nur noch beobachten, wie der Wagen fast ungebremst seitlich unter die Baggerschaufel raste, die auf rund 60 Zentimeter Höhe in die Straße ragte. Das Dach des Wagens wurde eingedrückt, beide Insassen schwer verletzt. Der Beifahrer starb noch an der Unfallstelle, der Fahrer später im Krankenhaus. „Ich habe ein Geräusch gehört, dann bin ich sofort auf die Bremse gestiegen“, sagte der Angeklagte. „Das Auto habe ich erst gesehen, als es wieder unter der Schaufel hervorgekommen ist.“
„Ich habe den Bagger und das Auto gesehen – und dann hat es auch schon gekracht“, erzählte ein 44-jähriger
Zeuge vor Gericht. „Nach dem Aufprall war es totenstill – das Auto war aus, ist aber immer weitergerollt, erst durch den Zaun und dann über die Wiese und fast noch in den Fluss“, erzählte der 44-Jährige. Der Mann war auch einer der ersten beim Unfallwagen, wo er beim Fahrer Erste Hilfe leistete. Auch der Angeklagte war zu dem Auto gestürmt, bis ihn beim Anblick der schwer verletzten Insassen die Kräfte verließen. „Ich konnte nicht hinsehen“, sagte der 51-Jährige vor Gericht. Noch heute leidet er unter Schlafstörungen. Ebenso wie seine Frau, die vor Gericht eindrucksvoll schilderte, dass sie ein Jahr nach dem Vorfall nicht Autofahren konnte und noch heute Panikattacken hat, wenn sie Polizeisirenen hört.
„Es ist ein Fall mit unglaublich tragischen Folgen“, sagte Richter Schlosser. „Deshalb ist es wichtig, dass es heute einen Abschluss findet.“Er stellte das Verfahren auch ein, weil der verstorbene Autofahrer zum Zeitpunkt des Unfalls über ein Promille Alkohol im Blut hatte, also im juristischen Sinne „absolut fahruntüchtig“war. Die Polizei hatte im
Unfallauto Scherben von Bierflaschen gefunden und deshalb eine Untersuchung angeordnet. Zudem war auf einer gesperrten Straße und mit über 90 bei erlaubten 60 Stundenkilometer unterwegs gewesen, erklärte Schlosser. „Und das in der Dämmerung ohne Licht.“Ein Verkehr-Sachverständiger hatte zuvor in seinem Gutachten bestätigt, dass der Unfall zu vermeiden gewesen wäre, wenn der Autofahrer sich an das vorgeschriebene Tempolimit gehalten hätte. „Das überwiegende Verschulden liegt auf der Seite des getöteten Autofahrers“, sagte Schlosser.
Dieser Einschätzung schloss sich auch die Staatsanwältin an. Der Angeklagte habe nicht sorglos gehandelt, weil er ein Warndreieck aufgestellt und die zwei Frauen zum Einweisen mitgebracht hatte, sagte die Staatsanwältin. Das letzte Wort in der Verhandlung gehörte dem Angeklagten: „Ich finde es ganz schlimm, dass zwei Menschen ums Leben gekommen sind“, sagte der 51-Jährige mit brüchiger Stimme. „Aber ich wüsste trotzdem nicht, was ich heute anders machen würde.“