Mit Spiel und Kunst gegen das Trauma von Moria
Was eine Hochschulprofessorin im Flüchtlingslager auf Lesbos erlebte
(kro) - Eigentlich wollte Renate Schwarz im vergangenen Sommer ein Forschungssemester im Himalaya verbringen. Doch die Corona-Krise machte der Professorin an der Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU) einen Strich durch die Rechnung. Statt drei Monate ins Hochgebirge ging es Mitte Juli mit der Organisation „stArt international“auf die Insel Lesbos. Dort leistete sie im Flüchtlingslager Moria traumapädagogische Arbeit mit Kindern.
„Es war keine direkt traumatherapeutische oder pädagogische Arbeit an sich“, erklärt Schwarz. „Wir haben sehr niederschwellig gearbeitet.“Das macht ihr Engagement aber nicht weniger wichtig. Auf dem Programm standen Spiele, Musik, aber auch simple künstlerische Arbeiten. So ließen sie die Kinder etwa jeweils zu zweit Bilder malen. Ein Kind begann von der einen Seite mit Blau zu malen, ein Kind malte von der anderen mit Gelb. In der Mitte wurde Grün daraus. „Durch das Künstlerische hatte das auch so eine traumatherapeutische Wirkung“, sagt die Hochschulprofessorin.
Für zweieinhalb Wochen fuhren sie und ihre beiden Teammitglieder zweimal am Tag ins Lager. Morgens ging es in die Schulzelte, wo die älteren Kinder, die bereits Englisch konnten, die Jüngeren unterrichteten. Den „rigiden“Unterricht, wie Renate Schwarz es nennt, ergänzten sie mit kreativen Arbeiten. Am späten Nachmittag kehrten sie ins Lager zurück, diesmal auf den sogenannten „Dorfplatz“. Schnell sprach sich herum, was es bei den Frauen in den roten T-Shirts zu erleben gab. Und so kamen regelmäßig bis zu 50 Kinder aus allen Altersgruppen zu ihnen gelaufen. Viele kamen jeden Tag, manche brachten mit der Zeit ihre Freunde mit, manche kamen auch selten. Aber alle nahmen freiwillig an den Angeboten teil.
Das Rezept war einfach: „Wir haben Dinge gemacht, an denen die Kinder Spaß hatten“, erklärt die RWU-Professorin. Musik, Spiel und Tanz haben eine wissenschaftlich erwiesene Wirkung auf den ganzen Körper. Im Gehirn werden bestimmte Regionen aktiviert, durch die positive Erlebnisse im Leibgedächtnis haften bleiben. „Die Kinder haben an den Angeboten mit strahlenden Augen teilgenommen und sind mit strahlenden Augen zurück zu ihren Zelten gegangen“, erinnert sie sich.
Ein „magischer Moment“ist ihr dabei besonders im Kopf geblieben: Gemeinsam mit den Kindern schwangen sie ein großes, rotes Tuch. Darauf hatten sie einen Ball gelegt, den sie in die Luft springen ließen. „Immer wieder sind Kinder unter das Tuch geschlüpft, sie kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus“, erzählt Renate Schwarz. „Solche Momente kann man nicht konstruieren.“
Eher zufällig war sie nach ihrer gescheiterten Himalaya-Reise auf „stART international“gestoßen. Der Verein unterstützt insbesondere Kinder, die von Naturkatastrophen, Krieg und Flucht betroffen sind und gab 2019 das Buch „Kinder stärken – Zukunft gestalten“heraus. „Das Buch habe ich gelesen, es war sofort überzeugend“, sagt Schwarz. Nach ihrer erfolgreichen Bewerbung ging alles ganz schnell: Innerhalb von zwei Tagen musste sie für die Reise nach Moria zusagen – Zweifel habe sie keine gehabt. Bei ihrem ersten Besuch im Lager sei sie dennoch „schockiert“gewesen: „So etwas habe ich noch nie gesehen. Die Zustände waren unvorstellbar.“