Der organisierte Tod
Das Verfassungsgericht hat vor einem Jahr das Recht eines jeden Menschen auf Suizid für bindend erklärt – Nun diskutiert die Evangelische Kirche über einen Suizidassistenten – Pfleger und Mediziner warnen vor einer dramatischen Entwicklung
- Dass sie in der Begleitung Sterbender immer auch ein Stück weit sich selber begegnet, hat Ulrike Felder-Rhein vor Jahren bei der Betreuung ihrer todkranken Mutter gemerkt. „Meine Mutter hat damals sehr lange mit dem Sterben gehadert“, erzählt die 66-Jährige aus der Gemeinde Berg (Landkreis Ravensburg). „Und als es ihr dann bewusst wurde, hat sie einen unglaublichen Humor entwickelt.“Außerdem war da noch etwas Unausgesprochenes zwischen Mutter und Tochter, das irgendwann raus musste. Auf jeden Fall hat FelderRhein diese Erfahrung in ihr Leben mitgenommen und auch deshalb nach ihrer Pensionierung als Sterbebegleiterin bei der ambulanten Hospizgruppe Ravensburg begonnen. Wo die frühere SWRRadioredakteurin ebenfalls bewegende Begegnungen hat, wie mit jenem Mann, der vom Hals weg gelähmt war und nur noch den Kopf drehen konnte. Oder der Frau, die störrisch und stur ihr nahendes Ende nicht wahrhaben wollte. Oder der 95-Jährigen, mit der sie zusammen eine Zeitreise in die Vergangenheit unternahm. „Durch diese Begleitungen hat sich meine Sichtweise auf Tod und Sterben verändert“, sagt Felder-Rhein. Und damit auch ihre Sicht auf die Debatte um die Sterbehilfe.
Angestoßen wurde diese vor gut einem Jahr durch das historische Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das hatte den „SterbehilfeParagrafen“217 für nichtig erklärt. Dieser stellte geschäftsmäßige, also auf Wiederholung angelegte Förderung des Suizids unter Strafe. Die Begründung: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und – soweit sie angeboten wird – in Anspruch zu nehmen.“
Ein radikales Urteil, das nicht weniger bedeutet als: Egal ob alt oder jung, reich oder arm, ob aus Liebeskummer oder Krankheit und auch unabhängig von religiösen Geboten – wer die Last des Lebens nicht mehr tragen will, hat ein
Recht auf Hilfe zur Selbsttötung. Was neben vielem anderen die Frage aufwirft: Wer soll denn diese Hilfe leisten?
Sterbehilfeorganisationen vermelden seit dem Urteil regen Zulauf. Ihnen die verantwortungsvolle Aufgabe allein zu überlassen, dagegen wehren sich prominente evangelische Theologen, die eine Art neues Berufsbild ins Spiel bringen: das des Suizidassistenten – unter dem Dach der Diakonie. Ein Dammbruch, zu dem der DiakoniePräsident Ulrich Lilie der „Süddeutschen Zeitung“sagte: „Ich kann mir vorstellen, dass man bestens qualifizierte Menschen hat, Seelsorger, die Anwältinnen und Anwälte des Lebens sind, die sicherstellen, dass dies (der Wunsch nach Suizid, die Red.) wirklich eine selbstbestimmte Entscheidung ist.“
Ob sich das zweifelsfrei sicherstellen lässt, da hat Susanne Kränzle, Vorsitzende des Hospiz- und Palliativverbands Baden-Württemberg (HPV), ihre Zweifel. Sie wurde damals vor dem Verfassungsgericht als Expertin angehört, das Urteil hat sie dann überrascht, in negativer Hinsicht: „Da wird die Autonomie des Menschen überbetont, dass mir Angst wird“, sagt Kränzle und kritisiert: „Der Suizid wird ein Stück weit heroisiert.“
Die 54-Jährige macht seit fast 30 Jahren Hospizarbeit und ist Leiterin des Hospiz Esslingen. Träger ist die Evangelische Landeskirche. Kränzle weiß, wie schwer das nahende Ende auf der Seele liegen kann: „Es gibt diese Todeswünsche.“Verbunden mit der Angst vor Schmerzen, vor Verlust der Eigenständigkeit und nicht zuletzt in Sorge um das Wohlbefinden Nahestehender, denn: „Der häufigste Grund für den Wunsch nach Suizid, den die Betroffenen äußern, ist die Angst, anderen zur Last zu fallen.“
Diese Erfahrungen macht auch Sterbebegleiterin Felder-Rhein. Etwa bei der 95-jährigen Frau, die ihren Söhnen keine Mühen mehr bereiten wollte, die ihres langen Lebens müde war. Die verzweifelt sagte: „Ich möchte sterben, aber ich kann nicht.“In den darauffolgenden Wochen fanden die beiden Frauen zusammen. Und die Ältere erzählte der Jüngeren von ihrer bewegten Vergangenheit. Von der zerstörten Heimat nach dem Krieg und den erfüllten Jahren danach als Mutter und Pädagogin. Von dem Lachen der Kinder, das ihr das Allerschönste war. „Sie hat das Wesentliche reflektiert“, sagt Felder-Rhein, „und nochmal ins Leben gefunden.“
Auch die Hospize begegnen den inneren Nöten mit Versorgung und Umsorgung, mit menschlicher und medizinischer Zuwendung. Anhaltende Suizidwünsche gebe es daher so gut wie nie, betont Susanne Kränzle. „Das Leben bricht dann nicht ab“, sagt sie. „Stattdessen rundet es sich ab.“Dass dieser Weg nun infrage gestellt wird, macht ihr Angst. Dass sich Menschen unter Druck gesetzt fühlen könnten, Suizid zu begehen, schon um niemandem zur Last zu fallen. „Das wäre eine Autonomie, die zur Verpflichtung werden kann.“
Die aktuelle Debatte wirft daher eine Frage auf, die sich auch während der Pandemie in anderem Gewand stellt: In was für einer Gesellschaft wir leben wollen? Wie wir mit Alter, Krankheit und Abhängigkeit umgehen wollen? Welchen Wert wir einem Leben am Ende noch zumessen? Für Kränzle beantwortet das Verfassungsgericht diese Fragen „auf fast schon vernichtende Weise“.
Deshalb ist sie froh, dass es innerhalb der Evangelischen Kirche laute Stimmen gegen den Vorstoß der Theologen gibt. So erklärte Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): „Es gibt immer wieder Grenzsituationen, in denen sich Menschen zum Suizid entschließen. Aber Suizid ist immer etwas Tragisches, immer eine Niederlage. Ich fühle mich dem Lebensschutz verpflichtet.“Dass früher sogenannte „Selbstmörder“nicht kirchlich beerdigt wurden, empfinde er als Schuld der Kirche, weil es dem Liebesgebot widerspreche. „Daraus kann man aber nicht ableiten, dass man organisatorisch tätig wird, damit Menschen ihr Leben beenden können. Da gibt es andere Möglichkeiten.“
Die Haltung der Katholischen Kirche formulierte unmissverständlich Bischof Gebhard Fürst: „Einen Abschied in Würde zu ermöglichen, bedeutet aus christlicher Sicht, dass der Sterbende an der Hand eines Menschen stirbt – und nicht durch sie.“
So bleibt das Stimmungsbild in dieser hochemotionalen Debatte uneindeutig, das gilt auch für die breite Öffentlichkeit. Das zeigte sich vor Monaten auch bei dem Fernsehfilm „Gott“des Autoren Ferdinand von Schirach, der die zentrale Frage behandelt: Wer darf assistiert sterben – und wer nicht. In der anschließenden Talkshow „hart aber fair“konnten die Zuschauer abstimmen, ob die fiktive Hauptperson, ein trauriger Witwer, das gewünschte Sterbemittel bekommen soll oder nicht – 71 Prozent waren dafür.
Die Politik darf sich solchen Stimmungsbildern nicht verpflichtet fühlen, sie muss aber die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Inzwischen gibt es Gesetzesvorschläge, darunter einen fraktionsübergreifenden der Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach (SPD), Petra Sitte (Linke) sowie Katrin Helling-Plahr. Die FDP-Politikerin meint: „Wir dürfen uns als Gesetzgeber nicht mit unseren vielleicht bestehenden Moralvorstellungen über die Selbstbestimmung von Menschen hinwegsetzen.“Deshalb wird nun definiert, wie Beratung, Beschluss und Durchführung der Sterbehilfe aussehen könnten. Wobei naheliegend den Ärzten eine wichtige Rolle zukommen soll. Professor Sven Gottschling, Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Uniklinikum des Saarlands, kann sich eine beratende Funktion in diesem sensiblen Umfeld gut vorstellen. Mehr aber nicht. „Welcher Arzt will denn Helfer und Henker zu gleich sein?“, fragt Gottschling. „Wir sind alle darauf trainiert, Leben zu erhalten und nicht zu töten. Das müssten wir, provokant gesagt, von Tierärzten oder Metzgern lernen.“
Gottschling, der gebürtig aus Stuttgart kommt und in Tübingen studiert hat, ist Autor von Büchern, deren Titel wie eine vorweggenommene Stellungnahme zur aktuellen Debatte klingen – zum Beispiel das Werk „Leben bis zuletzt: Was wir für ein gutes Sterben tun können“. Dass es künftig ein todbringendes Medikament auf Rezept geben soll und die Selbsttötung zum Verwaltungsakt wird, findet er „gruselig“. Er erinnert an Länder wie Belgien und Niederlande, wo bereits Tötung auf Verlangen erlaubt ist. Wo „ärztliche Tötungsteams mit dem Auto durchs Land fahren“. Wo es entsprechende Gesetze gibt, die das Wort Euthanasie (griechisch = schöner, leichter Tod) im Namen tragen. „Ich denke, in Deutschland haben wir bei diesen Themen eine besondere Verantwortung.“
Die auch die Betreuung Lebensmüder einschließt. „In den allermeisten Fällen besteht bei den
Betroffenen kein Sterbewunsch“, ist Gottschling überzeugt, sondern eine irrationale Angst davor, was kommen könnte. Die Palliativmedizin kennt hier wirksame Alternativen der Schmerzbehandlung auch bei schwersten Krankheitsverläufen. Aber ist diese Angst tatsächlich immer irrational? Gibt es nicht Fälle, in denen sich das Dasein auf Qual und Leid reduziert? Wenn Körper und Geist an ihre Grenzen stoßen und darüber hinaus? Wenn bei Betroffenen und Angehörigen gleichermaßen die letzten Kräfte schwinden?
„Ich lasse mich gerne auf eine Sterbehilfedebatte ein“, antwortet der Mediziner. „Aber erst wenn eine schnelle und unbürokratische Versorgung für jeden sterbenden Menschen gewährleistet ist.“
Zwar hat sich laut Gottschling die Versorgungslage für Todkranke schon deutlich verbessert, der Mangel sei aber noch immer eklatant. Der Grund dafür liegt in einer unzureichenden Gegenfinanzierung, weil die Kombination viel Mensch, wenig Maschine hohe Kosten verursacht oder wie Gottschling sagt: „Sprechende Medizin ist teuer.“Das führt zu vollen Wartelisten, auch auf der Palliativstation. „Wenn wir ein freies Bett haben und anrufen, sind häufig die ersten vier auf der Liste bereits verstorben.“Genauso würden viele Menschen in Erwartung eines Hospizplatzes sterben.
„Da muss Abhilfe geschaffen werden“, sagt der Experte. „Dann lasse ich mich auch darauf ein“, fährt er fort, „über diese Handvoll Menschen zu reden, die trotzdem einen konsistenten Sterbewunsch haben. Ich wehre mich aber dagegen, das Thema Sterbehilfe massiv nach vorne zu werfen, bevor wir keine hinreichende gute Versorgung haben für ganz, ganz viel gequälte Menschen.“
So jedoch treibt Mediziner, Betreuer und Pflegende die Sorge um, dass sich der Wert eines Menschen zunehmend daran bemisst, welche Funktionalität er noch besitzt. Dass am Ende des Lebens statt Versorgung die Entsorgung steht. Dass sich Menschen irgendwann dafür rechtfertigen müssen, dass sie noch leben möchten.
Ulrike Felder-Rhein sieht indes das Urteil des Verfassungsgerichts nicht ausschließlich negativ. Sie begrüßt, dass dadurch Sterbehilfe entkriminalisiert wird. „Ich bin mittlerweile aber überzeugt, dass das Leben bis kurz vor dem letzten Atemzug lebenswert sein kann“, sagt sie. Und manchmal sogar noch Überraschungen bereithält. Wie im Fall ihrer Mutter, die den nahenden Tod erst nicht wahrhaben wollte, um ihm dann mit einem Lachen zu begegnen. Die ihre Familie launig aufforderte: „Holts mal a Kracherl, jetzt stoßen wir aufs fröhliche Sterben an.“Und in anderen Momenten wiederum nachdenklich gestand: „Ich habe mich um euch nicht so kümmern können, wie ich es gerne gewollt hätte.“Felder-Rhein ist überzeugt, dass diese Tiefe und Größe am Ende des Lebens der Mutter das Sterben erleichterte. Und die durch ihre Worte der Reue die Tochter bis heute berührt und begleitet.
Sven Gottschling, Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Uniklinikum des Saarlands
„Wir sind alle darauf trainiert, Leben zu erhalten und nicht zu
töten.“