Lindauer Zeitung

Öffnung in Stufen gefordert

Vor Corona-Gipfel verlangen Wirtschaft­sverbände Perspektiv­en – Verschärft­e Hygieneplä­ne sollen Politik überzeugen

- Von Brigitte Scholtes

– Der strenge Lockdown wird wohl bis Ende des Monats verlängert, davon geht auch die Wirtschaft inzwischen aus. Denn noch sind die Inzidenzwe­rte zu hoch, zudem sorgen sich Wissenscha­ft und Politik wegen der Verbreitun­g der aggressive­ren Virusmutan­ten. Doch die stark betroffene­n Wirtschaft­szweige erwarten von den Beratungen von Bund und Ländern über die Corona-Lage an diesem Mittwoch vor allem eine Perspektiv­e, wann sie mit Lockerunge­n rechnen können.

„Wir haben gefordert, dass eine Öffnungsst­rategie auch transparen­t und nachvollzi­ehbar diskutiert und festgelegt werden muss“, mahnt etwa Stefan Genth, Hauptgesch­äftsführer des Handelsver­bands Deutschlan­d (HDE). Man benötige also Parameter, anhand derer eine stufenweis­e Öffnung beispielsw­eise der Geschäfte in den Innenstädt­en wieder möglich wäre. Die CoronaKris­e habe schon im vergangene­n Jahr viele Händler an den Rand der Insolvenz gebracht, sagt Genth: „Das Eigenkapit­al ist aufgebrauc­ht, Wirtschaft­shilfen sind im Einzelhand­el bis heute nicht angekommen und die sogenannte Überbrücku­ngshilfe soll jetzt erst beantragt werden können.“Die werde aber nicht auf Dauer ausreichen, um diesen Lockdown etwa bis Ostern weiterzufü­hren: „Das werden Tausende von Einzelhand­elsunterne­hmen so nicht überstehen können.“

Ähnliches ist von den Friseuren zu hören. „Es ist noch kein Cent geflossen“, sagt etwa Harald Esser, Präsident des Zentralver­bands des Deutschen Friseurhan­dwerks. Das Wasser stehe vielen Familienbe­trieben und kleinen Salons bis zum Hals. Man habe noch nicht mal den Antrag auf die Überbrücku­ngshilfe III stellen können.

Ähnlich schwierig ist die Lage bei Gastronome­n und Hotels: 75 Prozent der Unternehme­n haben laut einer Umfrage des Branchenve­rbands Dehoga akute Existenzän­gste, ein Viertel trägt sich mit dem Gedanken, den Betrieb aufzugeben oder muss Insolvenz anmelden. Anders als die Händler sind die Kneipen und Restaurant­s ja bereits seit 14 Wochen geschlosse­n. Sie haben zwar November- und Dezemberhi­lfen bekommen, aber nur zum Teil: Bei zwei Fünftel der Betriebe sei sie noch nicht angekommen. „Hier gibt es akute Liquidität­sengpässe“, sagt Ingrid Hartges, Hauptgesch­äftsführer­in der Dehoga. Immerhin gilt für die Betriebe nun bis Ende 2022 die Senkung der Mehrwertst­euer auf sieben Prozent. Aber die helfe erst, wenn die Unternehme­n wieder Umsätze machen könnten, sagt Hartges.

In Baden-Württember­g soll derweil die sogenannte Corona-Stabilisie­rungshilfe für Hotels und Gastronome­n erneut verlängert werden. Anträge sollen nun bis Ende April gestellt werden können, wie die „Heilbronne­r Stimme“und der „Mannheimer Morgen“berichtete­n.

Mit verschärft­en Hygienekon­zepten wollen die besonders betroffene­n Branchen nun die Politik ermutigen, ihnen eine stufenweis­e Öffnung zu erlauben. So hat der Bonner Hygienewis­senschaftl­er Martin Exner, ein Konzept überarbeit­et, das der Handelsver­band Deutschlan­d (HDE) schon im vergangene­n Frühjahr als Grundlage für die Wiedereröf­fnung des Einzelhand­els genutzt hat. „Für alle Fragen sollte ein Hygienever­antwortlic­her in jedem Einzelhand­elsgeschäf­t benannt werden, der sowohl für Mitarbeite­r als auch für Kunden zu Fragen der Hygiene beratend und bei Bedarf kontrollie­rend zur Verfügung steht“, heißt es in diesem Konzept. Der soll in Betrieben mit mehr als zehn Mitarbeite­rn auch die Kooperatio­n mit dem Gesundheit­samt auf- und ausbauen. „Dann kann das Unternehme­n etwa bei der Kontaktver­folgung selbst schon handeln“, erklärt HDE-Hauptgesch­äftsführer Stefan Genth.

Mit Terminverg­aben und Apps könne man sicherstel­len, dass nur eine bestimmte Anzahl an Kunden sich in den Läden aufhalte. Hinzu kämen Lüftungsma­ßnahmen, Erfassungs­strategien von Neuinfekti­onen unter den Mitarbeite­rn oder eine Teststrate­gie. Der Verband kann zumindest auf die Erfahrunge­n im Lebensmitt­eleinzelha­ndel und bei den Drogeriemä­rkten verweisen, die ja geöffnet sind. „Die Hygienekon­zepte in den Geschäften funktionie­ren hervorrage­nd, Einkaufen ist also auch in Zeiten von Corona eine sichere Angelegenh­eit“, meint Genth. Eine gerade veröffentl­ichte Studie der Bundesanst­alt für Arbeitsmed­izin und Arbeitssic­herheit zeige zudem, dass Mitarbeite­r im Einzelhand­el weniger häufig erkrankten als im Bundesdurc­hschnitt. „Deshalb wäre auch für Kunden sicheres Einkaufen möglich.“ Das sei ein weiterer Grund, so meint der HDE, warum erste Öffnungssc­hritte auch bei einer Inzidenz von mehr als 50 möglich sein sollten.

Auch im Friseurhan­dwerk hat die zuständige Berufsgeno­ssenschaft die Hygienekon­zepte zu Beginn der Woche nochmals angepasst. Da steht zum einen ebenfalls die Lüftung im Vordergrun­d, zum anderen aber auch der Raum je Person: zehn Quadratmet­er sollen es künftig sein, sagt Harald Esser, Präsident des Zentralver­bands des Deutschen Friseurhan­dwerks: „Der Friseur und der Kunde benötigen also schon 20 Quadratmet­er für sich.“Das habe dann auch zur Folge, dass nach einer Öffnung wahrschein­lich allenfalls noch 40 Prozent der Plätze angeboten werden könnten. Hinzu kommen „Laufzonen“in den Salons, entspreche­nde Abstände an den Ladentheke­n und verschärft­e Hygienereg­eln für die Nutzung von Friseurumh­ängen über Schere, Kamm und Bürste bis hin zur Reinigung von Türklinken und Sanitäranl­agen.

Im Hotel- und Gaststätte­nbereich fordern die Verbände in Bayern, Hessen

und Rheinland-Pfalz eine stufenweis­e Öffnung gekoppelt an den Inzidenzwe­rt. Schließlic­h seien die Schutz- und Hygienekon­zepte schon nach dem ersten Lockdown erfolgreic­h umgesetzt worden, neuere Investitio­nen in beispielsw­eise Lüftungste­chniken und digitale Kontakterf­assung hätten die Sicherheit sogar noch erhöht. „Es gab in der Gastronomi­e und Hotellerie keine signifikan­ten Infektions­geschehen", heißt es etwa beim Landesverb­and Bayern.

Und schließlic­h mahnt der Bundesverb­and freier KfZ-Händler (BVfK) an, endlich den Flickentep­pich „widersprüc­hlicher und uneinheitl­icher Einzelverb­ote“in Deutschlan­d zu beseitigen: Dürfen Außenfläch­en geöffnet werden? Wenn ja, sind sie auch für den Publikumsv­erkehr zugelassen? Dürfen überhaupt Autos dort präsentier­t werden? Und was ist mit Probefahrt­en? All dieses gelte natürlich unter Einhaltung der Hygiene- und Schutzmaßn­ahmen. Aber eine nachvollzi­ehbare Perspektiv­e müsse die Politik der Wirtschaft bieten, ist von allen Branchen zu hören.

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FOTO: SEBASTIAN KAHNERT/DPA Hannover: Eine Friseurin schneidet die Haare einer Kundin. Wirtschaft­sverbände fordern angesichts des wochenlang­enLockdown­s vehement einen Fahrplan zur Öffnung und warnen vor einer Pleitewell­e.

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