Systemsprenger im Wilden Westen
Der zwölfjährigen Helena Zengel gelingt an der Seite von Tom Hanks ein furioser Auftritt in „Neues aus der Welt“
Das Land ist karg und das Leben ist hart. Auch sonst ist in dem Film mit dem Originaltitel „News of the World“, der im US-amerikanischen Westen des 19. Jahrhunderts spielt, kurz nach dem Bürgerkrieg, der in den Köpfen und im Alltag der Menschen noch sehr präsent ist, vieles anders als heute. Zugleich gibt es erstaunliche Parallelen. Und vom Kontrast zwischen beidem lebt dieser Film.
Heute zum Beispiel verbreiten sich Nachrichten sofort. In der Welt von damals, die viele, viele Meilen von dem entfernt ist, was den Ausdruck Zivilisation verdient, kommen Neuigkeiten nur alle paar Wochen bei den Menschen an. Captain Jefferson Kidd (Tom Hanks), ein Bürgerkriegsveteran, ist ein Nachrichtenerzähler. Er verdient seinen Lebensunterhalt damit, von Stadt zu Stadt zu reisen, und die Nachrichten und Meldungen aus einem Dutzend Zeitungen zusammenzufassen, vorzulesen und auszuschmücken. So erzählt er mit komischen oder dramatischen Geschichten über die Welt außerhalb dieser kleinen Gemeinden. Jefferson Kidd ist quasi ein früher Anchorman des Wilden Westens.
Regisseur Paul Greengrass gelingt es von Anfang an, bei den Zuschauern einen Sinn für die latente Bedrohung zu schaffen, die alles hier durchzieht. Nichts ist gesichert, der Alltag lebensgefährlich. Das Gefühl idyllischer Verhältnisse kommt hier nie auf, zumal auch der Captain seine eigenen Dämonen in sich trägt.
Auf seiner Reise trifft der Captain eines Tages in den Wäldern auf ein verlorenes Mädchen (Helena Zengel). Es ist weiß, wuchs aber die letzten Jahre bei Kiowa-Indianern auf. Das Kind hat nicht nur seinen früheren Namen Johanna vergessen, sondern auch seine alte Sprache. Nachdem die Kiowa vor Jahren Johannas Familie massakriert hatten, nahmen sie das Mädchen auf. Doch nun soll sie zu einer Tante und einem Onkel zurückgebracht werden, die Hunderte von Meilen entfernt leben. Und Captain Kidd erklärt sich notgedrungen bereit, mit Johanna durch die Wildnis zu reisen, um sie zu ihrem neuen Zuhause zu bringen.
Zunehmend wachsen die beiden zusammen, auch durch die Gefahren, die sie gemeinsam meistern. Und das anfangs scheue, ängstliche Mädchen fasst Vertrauen zu dem
Captain, der sich zu einem Ersatzvater entwickelt.
Das Amerika, das den beiden und uns damit begegnet, ähnelt der Gegenwart verblüffend: Staatsfeindschaft, Anarchie, Bigotterie, Rassismus, kleine autonome, von der übrigen Wirklichkeit weitgehend losgelöste Gemeinschaften und alltäglicher Irrsinn pflastern den Weg, genauso wie Bürokratie und Selbstgerechtigkeit.
„Neues aus der Welt“wurde von Paul Greengrass inszeniert, dem Regisseur der drei „Bourne“-Thriller. Ein paar Szenen sind daher erwartbar hochspannend in Szene gesetzt, eine Schießerei beispielsweise souverän und auf eine Weise, dass man nie den Überblick verliert. Überhaupt ist dies keine Streaming-Produktion, sondern ein Film, der immer erkennbar fürs Kino gemacht ist: mit Aufwand, Sorgfalt und Leidenschaft; kein Massenprodukt. Greengrass versteht sich auf die Breite der Geschichte, während Hauptdarsteller Tom Hanks sich in dieser schönen Rolle als Meister darin zeigt, kleine Augenblicke und Momentaufnahmen zu großem Leben zu erwecken. Zugleich ist dies, wenn wir ehrlich sind, eine Rolle, die Hanks auch im Schlaf noch spielen könnte.
Die Deutsche Helena Zengel ist auch in ihrer ersten internationalen Rolle ein Fall für sich. Sie knüpft direkt an ihr furioses Debüt als „Systemsprenger“an – eine Naturkraft auf der Leinwand. Dabei hilft der Zwölfjährigen, dass sie kaum sprechen muss und hier ja auch ein bei „Wilden“aufgewachsenes, sozial verwahrlostes Wolfskind, zugleich eine kindlich unschuldige und verletzliche Figur spielen darf. Auf Dauer wird sie noch anderes zeigen und leisten müssen – aber dieser Auftritt, der einem großen Star wie Tom Hanks ebenbürtig ist, ist toll und aller Ehren wert: Großartig zeigt sie meist schweigend schmerzhafte, verletzliche und traumatisierte Seiten.
Mag der Western als Genre auch nicht jedermanns Sache sein, so ist „Neues aus der Welt“aber von Anfang
an mehr als nur ein Trip durch bekannte Filmmotive: eine archaische Heldenreise, ein Roadmovie durch Situationen und Verhältnisse, die oft überraschend vertraut sind.
Greengrass und Hanks erzählen eine einfache, aber einnehmende Geschichte, die zugleich intim und universal ist. Ein Lichtblick in der Wüste des Irrealen, zwischen StreamingEpidemie und Lockdown-Vorruhestand.
Neues aus der Welt. Regie: Paul Greengrass, USA 2020, 119 Minuten, FSK ab 12. Mit Tom Hanks und Helena Zengel. Ab 10. Februar auf Netflix zu sehen.