Sicherheit am seidenen Faden
Nato-Truppen sollen Afghanistan verlassen – Das Risiko ist groß, der ohnehin brüchige Frieden könnte ein jähes Ende finden
- Seit fast● zwei Jahrzehnten läuft der Einsatz in Afghanistan. Nun steht die Nato am heutigen Donnerstag vor einer Entscheidung: Sollen die Truppen wie geplant bis Ende April abgezogen werden oder länger bleiben? Beides birgt Risiken.
Wieso ist die Nato überhaupt am Hindukusch?
Der internationale Einsatz begann nach den Anschlägen vom 11. September 2001: Afghanistan sollte nie wieder ein Rückzugsort für weltweit operierende Terroristen werden. Der Kampfeinsatz wurde Ende 2014 offiziell für beendet erklärt und von der Mission „Resolute Support“abgelöst. Seither ist es Aufgabe der derzeit knapp 10 000 ausländischen Soldaten, die afghanischen Streitkräfte vor Ort zu beraten und auszubilden.
Warum wird nun über einen Abzug diskutiert?
Zu den Versprechen des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump gehörte es, die Soldaten nach Hause zu holen. Vor einem Jahr wurde daher ein Abkommen mit den Taliban geschlossen. Darin verpflichten sich die USA unter anderem, „alle militärischen Kräfte der USA, ihrer Verbündeten und Koalitionspartner“aus Afghanistan zurückzuziehen – bis Ende April 2021. Geknüpft ist dies an die Einhaltung bestimmter Zusagen der Taliban. Eine „echte Konditionierung“ist allerdings nach Einschätzung des Afghanistan-Experten Thomas Ruttig nicht enthalten.
Haben die Taliban ihren Teil erfüllt?
Das sehen die USA und die Taliban unterschiedlich. Eine Bedingung war beispielsweise die Aufnahme von inner-afghanischen Friedensverhandlungen. Die Gespräche wurden tatsächlich gestartet, haben allerdings noch zu keinem Ergebnis geführt. Besonders umstritten ist die Gewaltfrage: „Die Gewalt in Afghanistan ist zu hoch“, kritisierte erst vor wenigen Tagen ein Pentagon-Sprecher. Nahezu täglich gibt es blutige Angriffe gegen afghanische Sicherheitskräfte und Zivilisten. Allerdings steht in dem Abkommen, zumindest im verden, öffentlichten Teil, nichts von einer generellen Gewaltreduktion. Die Taliban verpflichteten sich demnach auf ein Ende der Angriffe gegen sie und ihre Verbündeten, woran sie sich bislang gehalten haben. „Das ist alles nicht klar“, kritisiert Ruttig, der das Abkommen auch deswegen für „miserabel“hält.
Was macht die neue US-Regierung von Joe Biden?
Das ist die große Frage. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin will sich am heutigen Donnerstag mit den Nato-Verbündeten beraten und danach Empfehlungen an Biden formulieren. Schon dieses Vorgehen ist neu; Trump hatte sich wenig um Partnerschaften geschert. Auch Biden will – unter dem Druck der Öffentlichkeit – möglichst viele Soldaten abziehen, zugleich aber den Eindruck vermeidie Supermacht Amerika ergreife überstürzt die Flucht.
Wie könnte es weitergehen?
Eine vom US-Kongress beauftragte Expertengruppe schlägt vor, zunächst eine „Verlängerung der Deadline“über Ende April hinaus zu erreichen, um Spielraum für einen verbesserten Friedensprozess zu bekommen. Ruttig ist allerdings skeptisch: „Die USA machen den gleichen Fehler wie immer: Sie schmieden Pläne, ohne die Afghanen und in diesem Fall die Taliban einzubeziehen.“
Welche Risiken gibt es?
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht das Bündnis vor einem Dilemma. „Wenn wir entscheiden abzuziehen, gefährden wir den Friedensprozess“, sagt er. Afghanistan könne dann wieder „ein sicherer Hafen
für internationale Terroristen werden“. Bleibe die Nato aber, „gehen wir das Risiko erhöhter Gewalt ein – auch gegen Nato-Truppen“. Die müssten dann also womöglich sogar wieder aufgestockt werden.
Wie gefährlich könnte die Lage werden?
Die Taliban warnten die USA und ihre Verbündeten im Vorfeld der Nato-Beratungen vor einer „Fortsetzung von Besatzung und Krieg“. Sollten die Truppen nicht wie vereinbart Ende April abziehen, könnten die Taliban das als Aufkündigung der Vereinbarungen verstehen. Dann drohen womöglich wieder Angriffe auf Nato-Kräfte. Von einer „erhöhten Bedrohung auch für unsere eigenen Kräfte“spricht Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU).
Was bedeutet das alles für die Bundeswehr?
Die Bundeswehr ist derzeit mit rund 1100 Soldaten im Einsatz. „Wir bereiten uns auf verschiedene Szenarien vor“, sagt ein Sprecher des Einsatzführungskommandos. „Ein Abzug unseres Personals und sicherheitsrelevanten Materials bis Ende April ist immer noch möglich.“Umgekehrt wird auch eine Verlängerung vorbereitet: „Wegen der Gefährdungslage kann das heißen, dass wir die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen im Einsatz erweitern müssen.“
Was plant die Bundesregierung?
Das Bundeswehr-Mandat läuft Ende März aus, das Kabinett will am 24. Februar über eine Verlängerung entscheiden. Möglicherweise wird das Mandat diesmal nicht wie üblich für ein volles Jahr verlängert.
Hat der internationale Einsatz in Afghanistan das Land vorangebracht? Die grüne Verteidigungsexpertin Agnieszka Brugger sieht wenig Fortschritte in dem Land: „Leider ist die Situation in Afghanistan auch nach 20 Jahren des internationalen militärischen und zivilen Engagements absolut dramatisch“, sagt die Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Ravensburg der „Schwäbischen Zeitung“. Etwas positiver bewertet der CDU-Außenexperte Roderich Kiesewetter die Entwicklung. „Die Sicherheitslage hat sich durch die internationalen Truppen zwar wesentlich stabilisiert und die zivilen Wiederaufbauhelfer haben das Leben der Menschen verbessert“, teilt der Aalener Abgeordnete mit. Aber die Taliban könnten die Entwicklung rasch wieder zerstören. Die Zahl der Anschläge habe in jüngster Zeit sogar noch zugenommen, so Brugger.
Als problematisch beschreiben beide Politiker das Abkommen zwischen dem früheren USPräsidenten Donald Trump und den Taliban – das einen Abzug aller ausländischen Truppen bis Ende April vorsieht. Die Bedingungen dieser Vereinbarung seien noch nicht erfüllt, sagt Kiesewetter und warnt vor einem „verfrühten Abzug aus nationalen Motiven“: „Viele Opfer, die besonders deutsche Soldaten mit viel Blut und Leben bezahlt haben, wären dann vergeblich gewesen!“Brugger fordert allerdings auch, Ziele und Perspektiven bei einer Verlängerung des Einsatzes klarer zu definieren und zu prüfen, ob sie realistisch überhaupt erreicht werden können. „Es wäre falsch, einmal mehr gefährliche Einsätze ohne große Aussicht auf Erfolg mit leeren Durchhalteparolen weiter zu verlängern oder zu glauben, dass sich die Taliban militärisch besiegen lassen.“(clak)