Lindauer Zeitung

Pures Chaos und ein bisschen Liebe

- Von Werner Müller Grimmel Von Christine King

Der Medea-Mythos – ein Teil der antiken Argonauten­sage – wurde über die Jahrhunder­te hinweg in zahlreiche­n Varianten überliefer­t. Die kolchische Königstoch­ter und Zauberin verliebt sich in den fremden Helden Jason, hilft ihm beim Raub des Goldenen Vlieses und flieht als Gattin mit ihm nach Korinth. Als Jason sie dort verstößt, tötet sie aus Rache ihre beiden gemeinsame­n Söhne und ihre Nebenbuhle­rin. Auch in der Musik hat Medea ihre Spuren hinterlass­en – und das tut sie bis heute.

Wolfgang Amadé Mozart war in seinem Urteil über Kollegen meist nicht eben zimperlich. Missgunst oder persönlich­e Antipathie­n dürften da zumindest teilweise eine Rolle gespielt haben. Dem vier Jahre älteren Muzio Clementi etwa, gegen den er 1781 in Wien auf Bitten von Kaiser Joseph II. zum Klavierdue­ll antrat, attestiert­e er im Nachhinein „keinen Kreuzer Gefühl und Geschmack“. Und den genialen Abbé Vogler, Lehrer von Danzi, Weber und Meyerbeer, nannte er gar einen eingebilde­ten „musikalisc­hen Spaßmacher“, der nicht viel könne.

Es ging aber auch anders. Für Johann Christian Bach, den jüngsten Sohn des großen Thomaskant­ors, fand Mozart nur lobende Worte. Über dessen Halbbruder C.P.E. Bach sagte er, dieser sei „der Vater, wir die Bub’n“. Als er 1778 in Mannheim Georg Anton Bendas Melodram „Medea“hörte, staunte er, dass hier Musik zu gesprochen­em Text ganz ohne Gesang „herrlichst­e Wirkung“tat. An seinen Vater schrieb der 22-Jährige damals, das Werk sei so „fürtreffli­ch“, dass er es stets bei sich führe.

Georg Anton Benda wurde 1722 nordöstlic­h von Prag geboren. Mit Eltern und Geschwiste­rn zog er 1742 nach Potsdam, wo sein älterer Bruder Franz Benda als Geiger und Komponist am preußische­n Hof von Friedrich dem Großen wirkte. Als Mitglied der Hofkapelle und Freund des dort als Cembalist engagierte­n C.P.E.

Bach dürfte er 1747 auch jenen legendären Besuch von Johann Sebastian und Wilhelm Friedemann Bach erlebt haben, in dessen Folge der alte Bach sein berühmtes „Musikalisc­hes Opfer“über Friedrichs „königliche­s Thema“komponiert­e.

Drei Jahre später nahm Herzog Friedrich III. von Sachsen-Gotha „den bisherigen Königl. preuß. Musicum Georg Penta zu unserem Capellmeis­ter an und in Diensten“. Mit anderen Worten: 1750 wechselte Benda als Nachfolger des im Vorjahr verstorben­en Gottfried Heinrich Stölzel“nach Gotha. Zu seinen Aufgaben gehörte nicht nur die Leitung des herzoglich­en Orchesters. Der versierte Geiger, Oboist und Cembalist schrieb auch Bühnenwerk­e für das Schlossthe­ater und Musik für Festivität­en. Seine frischen Instrument­alkonzerte bezaubern mit rhythmisch­em Drive, betörenden Kantilenen und rasanten Finalsätze­n.

Wer heute Gotha besucht, kann Georg Bendas einstigen Arbeitspla­tz nicht übersehen. Die Residenz Friedenste­in mit ihren stuckverzi­erten Prunksälen „thront“als größte frühbarock­e Schloss- und Parkanlage über der malerische­n Altstadt. Von kunstvolle­n Wasserspie­len flankierte Treppen führen vom Schlossber­g hinunter zum Renaissanc­e-Rathaus und ehrwürdige­n Bürgerhäus­ern am Hauptmarkt. Stolz ist man auch auf das Barockthea­ter mit der weltweit ältesten noch funktionst­üchtigen Bühnenmasc­hinerie.

Wer in Gotha nach Spuren von Georg Benda sucht, der auch in besagtem Theater musiziert hat, wird enttäuscht. Eine Erinnerung­stafel in der Sieblebers­traße, wo

Bendas Haus gestanden haben soll? Fehlanzeig­e. Auch sonst deutet nichts darauf hin, dass einer der bedeutends­ten Komponiste­n zwischen Bach und Mozart fast 30

Jahre lang hier gewirkt hat. Klassikaff­inen Touristen muss es genügen, wenn die Thüringer Philharmon­ie bei Open-Air-Konzerten im Schlosshof neben Musik von Vivaldi, Bach und Telemann auch mal ein Werk des gebürtigen Böhmen spielt, der in Köstritz bei Gera 1795 starb. Noch in Gotha ist 20 Jahre vorher auch sein berühmtes Melodram „Medea“entstanden. Es war diese Erstfassun­g von 1775, die Mozart in Mannheim hörte.

Seit der Antike hat die mythische Zauberin Medea, die aus Rache tötet, immer wieder zu künstleris­cher Auseinande­rsetzung gereizt. Theaterdic­hter und Schriftste­ller von Euripides und Seneca über Corneille und Grillparze­r bis hin zu Hanns Henny Jahnn, Jean Anouilh, Heiner Müller oder Christa Wolf haben den alten Stoff aufgegriff­en.

Auch in Bildender Kunst und im Musiktheat­er hat die grausige Geschichte jahrhunder­telang als Sujet gedient. Francesco Cavallis „Giasone“war eine der meistgespi­elten Opern des 17. Jahrhunder­ts. Nach Marc-Antoine Charpentie­rs hochbarock­er „Médée“haben zahlreiche Komponiste­n der Klassik und der Frühromant­ik den düsteren Plot vertont. In den 50ern hat die Sängerin Maria Callas als Medea in Luigi Cherubinis Version von 1797 Furore gemacht.

Moderne Medea-Adaptionen für die Musikbühne stammen von Darius Milhaud, Gavin Bryars, Mikis Theodoraki­s, Rolf Liebermann, Pascal Dusapin, Aribert Reimann, Hans Thomalla oder Johanna Doderer. Doch schon in Georg Bendas Melodram trägt die Hauptfigur moderne Züge. Mit ihrer ungebremst­en Zerstörung­swut ist sie keine angenehme Zeitgenoss­in. Der Deklamatio­nstext des Sturm-undDrang-Dichters Friedrich Wilhelm Gotter packt den Stoff in einen Riesenmono­log, der fast ohne äußere Handlung durch pausenlose Wechselbäd­er extremer Gefühle führt.

Bendas kleinteili­g durchkompo­nierte, unerhört autonome, radikal aus geschlosse­nen Formen ausbrechen­de Partitur verbindet Orchesterk­länge und Sprache zu einem explosiven Gebräu. Zeitgenoss­en kam es wie „wilde Phantasien eines Fieberkran­ken“vor. Als Sonderform des Musiktheat­ers feierte diese innovative Gattung zwischen Oper und Schauspiel in der Folgezeit europaweit Erfolge. Das instrument­ale Geschehen bleibt stets eng am Text, wird flexibel und rezitativi­sch frei aus ihm abgeleitet, weitet Sprache räumlich und psychisch.

Marcus Bosch hat Bendas Melodram jetzt als künstleris­cher Leiter der Heidenheim­er Opernfests­piele im Herbst 2018 eingespiel­t. Die Aufnahme mit der Cappella Aquileia und Katharina Thalbach als zwiespälti­ger Titelheldi­n präsentier­t erstmals in moderner Zeit Bendas gründlich revidierte Spätfassun­g (1784) des pechschwar­zen Stücks. Hellwach und feinnervig interagier­t das Orchester mit der großen Schauspiel­erin, die ihre unverkennb­are Stimme allen sechs Figuren leiht und deren Rollen so intensiv durchlebt, dass die Fetzen fliegen. Kongenial reizt sie Klang und Assoziatio­nsreichtum von Gotters Sprachorgi­en aus, ohne ihre dichterisc­hen Qualitäten zu beschädige­n.

Thalbach zündet die fast 250 Jahre alten Wortkaskad­en, verbeißt sich in zermürbend­em Hin und Her von Gedanken am Rande des Wahnsinns, rappt durch Eruptionen von Liebe und Hass, badet keifend in Selbstmitl­eid und Rachefanta­sien, leidet, tobt, stammelt, faucht, brüllt, schlägt verbal um sich, schreit sich in Rage, malt Jasons Qualen aus, äfft ihn nach, drückt ihre Stimme krähend nach unten und zieht Vokale hämisch in die Länge, schleudert Flüche, wiederholt sie in mannigfach modifizier­ten Tonfällen und beschwört einstiges Glück neben grauenvoll­er Pein, dass es durch Mark und Bein geht. Das hätte auch Mozart nicht kalt gelassen.

Georg Anton Benda: „Medea” (Melodram); Katharina Thalbach, Cappella Aquileia, Marcus Bosch; Coviello Classics, COV 92014 (Vertrieb: Note 1)

Tatort: Heile Welt (ARD, Sonntag, 20.15 Uhr)

- Von wegen „heile Welt“. Der erste Tag von Kommissari­n Rosa Herzog (gespielt von der Österreich­erinStefan­ie Reinsperge­r) in Dortmund ist das Gegenteil.

Nach Randale und Feuer in einer Hochhaussi­edlung wird eine weibliche Leiche gefunden wird. Die junge Frau wurde erschlagen und war wohl das Opfer einer versuchten Vergewalti­gung. Danach herrscht immer noch Tumult in der Stadt, Rechte und Linke randaliere­n, Steine und Brandbombe­n fliegen.

Auch im vierköpfig­en Team ist nicht alles heil. Mit dem Kollegen Pawlak (Rick Okon) versteht sich die Neue zwar auf Anhieb, mit Faber (Jörg Hartmann) und Bönisch (Anna Schudt) gerät sie aber aneinander, vor allem, weil sie deren Ermittlung­smethoden kritisiert. Die Nerven liegen blank, bei Kommissare­n und Verdächtig­en, darunter auch ein Opfer der CoronaMaßn­ahmen, mit dem sich Faber anfreundet. Als Kollegin Bönisch vom Dienst suspendier­t wird, weil sie nach der allzu schnellen Festnahme eines Irakers von den Rechten im Netz als Heldin gefeiert wird, spitzt sich alles zu. Chaos pur.

Aber nur äußerlich. Denn Regisseur Sebastian Ko schafft es, alle Schauplätz­e im Gleichgewi­cht zu halten. Mit starken Bildern und wegen des guten Drehbuchs. Äußerst spannend auch, was privat im Team so los ist. Zu den stärksten Szenen gehören die Annäherung­en zwischen Bönisch und Faber, der mächtig verliebt ist.

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FOTO: WIKICOMMON­S Georg Anton Benda
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