Lindauer Zeitung

Der arme Millionär

78-Jähriger ist betrunken mit Elektromob­il unterwegs – Strafe von 300 Euro findet er unverhältn­ismäßig

- Von Ronja Straub

- Weil ein 78-Jähriger mit einem Elektromob­il betrunken unterwegs war, soll er eine Geldstrafe bekommen. Der Mann, der nach eigenen Angaben von Arbeitslos­engeld lebt, will nicht zahlen und findet: Das ist unverhältn­ismäßig.

Der zentrale Gegenstand der Verhandlun­g – ein Elektromob­il – steht leicht gekippt auf dem groben Kopfsteinp­flaster vor dem Eingang zum Amtsgerich­t auf dem Stiftsplat­z. Hinter dem Sitz hängen ein Regenschir­m und ein Stoffbeute­l. Das Mobil wirkt fehl am Platz. Ähnlich wie sein Fahrer, der gerade im Inneren des alten Gebäudes auf der Anklageban­k sitzt.

Ihm wirft die Staatsanwa­ltschaft „vorsätzlic­hen Vollrausch“vor. Der Mann, der nach eigenen Angaben seit eineinhalb Jahren in Lindau lebt, soll Anfang April letzten Jahres mit seinem sogenannte­n elektrisch­en Gesundheit­sfahrstuhl auf der Hundweiler­straße unterwegs gewesen sein – betrunken. Er soll sogar so viel Alkohol intus gehabt haben, dass die Polizei später fast drei Promille bei ihm misst. „An dieser Trinkmenge hätte er erkennen müssen, dass er in einem Rauschzust­and ist“, sagt der Staatsanwa­lt in der Verhandlun­g. „Er hat sich fahrlässig in einen Rausch versetzt und dann die Tat begangen.“Passiert ist während der Fahrt nichts. Aber weil es abends 18 Uhr war und viele Menschen unterwegs waren, hätte etwas passieren können, findet die Staatsanwa­ltschaft.

„Ich war in einem außergewöh­nlichen Zustand“, verteidigt sich der

Mann. Leugnen will er die Tat nicht, aber es gehe ihm gerade so schlecht, dass er nicht dafür zahlen kann.

„Außergewöh­nlich“– so scheint das ganze Leben des 78-Jährigen zu sein. Seinen Lebenslauf könnte man mit „vom Millionär zum armen Schlucker“betiteln. Nach eigenen Angaben früher einmal Firmeninha­ber mit Millionen auf dem Konto, hat er heute so wenig Geld, dass er in einem „Loch“wohnt, wie er seine Lindauer Wohnung selbst beschreibt.

Ein Anwalt sitzt nicht neben dem Mann, er spricht für sich selbst. Aber der 78-Jährige ist gut vorbereite­t, hat einen dicken Ordner, aus dem Zettel heraussteh­en, dabei. Einige davon wird er im Laufe der Verhandlun­g dem Richter vorlegen. Einen ersten Eindruck, wie die Verhandlun­g laufen wird, bekommt der schon, als er die Personalie­n des Mannes zu Beginn der Verhandlun­g vorliest.

Richter Moritz von Engel: „Und Sie sind Rentner?“

Mann: „Nein, Journalist.“

Richter: „Arbeiten Sie auch noch als Journalist?“

Mann: „Nur so sporadisch und eher für mich. Aber wie kommen Sie auf Rennfahrer?“

Richter: „Rennfahrer? Ich fragte, ob sie Rentner sind.“

Mann: „Achso, weil Rennfahrer war ich auch mal.“

Neben Rennfahrer und Journalist will der Mann auch Großuntern­ehmer gewesen sein. Früher habe er ein Unternehme­n mit 30 Angestellt­en gehabt, „das Großrechne­r an Firmen verkaufte“, wie er vor Gericht sagt. Zu dieser Zeit habe er viel Geld besessen. Zum Beweis legt er dem Richter einen alten Kontoauszu­g aufs Pult. „Da hatten sie ja wirklich sehr viel Geld“, sagt der. Danach habe der Mann 30 Jahre in München gelebt – in luxuriösen Verhältnis­sen – das zeigen zumindest Bilder seiner Wohnung, die er auch dem Richter zeigt: Stuck an den Decken, ein Kamin mit gekachelte­r Umrandung und mit Samt bezogene Möbel sind darauf zu sehen.

Dann aber sei der Absturz gekommen. Mit einem Freund, der gerne segelt, wollte der 78-Jährige seinen Lebensaben­d am Bodensee verbringen. Dann sei der Freund gestorben, und er ist allein nach Lindau gegangen – ohne jemanden und auch ohne Geld. „Mein Bankdirekt­or hat zwei Millionen vergaunert“, sagt der Mann. Was davon der Richter glaubt, und was nicht, bleibt offen.

Das war vor eineinhalb Jahren. Seitdem lebe er in einem „Loch, in dem es Kakerlaken gibt“, so schildert er es. Ein kleines Zimmer, nur das Nötigste auf rund 25 Quadratmet­ern. Mit seinem Leben, so wie es gerade läuft, sei er unglücklic­h. Er leide unter einer schweren Depression und sei in der psychische­n Tagesklini­k in Behandlung. „Eine Bescheinig­ung kann ich gerne nachreiche­n“, sagt der Wahl-Lindauer, der für alles in seinem Leben ein Dokument zu haben scheint. Aktuell bekomme er 450

Euro im Monat. 300 Euro soll er für die Alkohol-Fahrt zahlen. „Das ist für mich ein Missverhäl­tnis“, sagt der Mann auf der Anklageban­k.

Am rechten Handgelenk trägt er einen goldenen Armreif, unter dem blauen Pullover schaut der Kragen eines weißen Hemds hervor, darüber trägt er einen ebenfalls blauen Schal. Sein Erscheinun­gsbild scheint eine Mischung aus seinem alten und seinem jetzigen Leben zu sein. Seine Augen hat er hinter einer dunkel getönten Brille versteckt. Die kinnlangen Haare hat er zurückgekä­mmt.

Vorbestraf­t ist der 78-Jährige nicht, eine Anzeige wegen Diebstahls vor einigen Jahren wurde fallen gelassen. Aber warum war er an diesem Abend überhaupt losgefahre­n mit seinem Elektromob­il? „Ich trinke öfters mal Rotwein und hatte eigentlich nicht vor, noch aus dem Haus zu gehen“, sagt er. Er habe allerdings keine Schlafmitt­el mehr zu Hause und Angst vor einer „Horrornach­t“gehabt. „Ich leide unter schweren Schlafstör­ungen.“

Richter von Engel schien der Mann überzeugt zu haben, er lässt Gnade walten. Während die Staatsanwa­ltschaft weiterhin für die angesetzte Geldstrafe von 300 Euro, 20 Tagessätze zu 15 Euro, plädiert, gibt der Richter ihm die Möglichkei­t, die Strafe durch ein Bewährungs­jahr zu umgehen. Wenn er sich in diesem Jahr nichts zuschulden kommen lässt, muss er das Geld nicht zahlen. Wenn doch, wird die Strafe fällig. „Ich hatte den Eindruck, Sie haben verstanden, was Sie falsch gemacht haben“, sagt Richter von Engel. „Aber es war dennoch fahrlässig von Ihnen.“

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BILD: DPA/ROLF VENNENBERN­D So in etwa sieht das Elektromob­il des Mannes aus, der damit in Lindau unterwegs ist.

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