Lindauer Zeitung

Corona und der tägliche Kampf um die Pflege

Auch Lindauer Sozialstat­ion lebt seit einem Jahr im Corona-Modus – „Not im Bereich Tagespfleg­e am größten“

- Von Evi Eck-Gedler

- Es ist ein diffuses Gefühl gewesen, das Gerhard Fehrer und Peter Kleiner vor gut einem Jahr hatten. Der Geschäftsf­ührer der Lindauer Sozialstat­ion und ihr Pflegedien­stleiter ahnen angesichts von ersten Infektions-Nachrichte­n nichts Gutes. Dann geht es Schlag auf Schlag: Die Corona-Pandemie beherrscht alles, der Lockdown lähmt. Immerhin: „Keine unserer 22 täglichen Pflegetour­en ist wegen Corona ausgefalle­n.“Darauf sind beide stolz. Doch der Alltag wird hart. Täglich muss um die Pflege gekämpft werden. Und um viele weitere Bereiche der Sozialstat­ion, die von außen gesehen nicht gleich im Blickpunkt stehen. Eine Bilanz nach einem Jahr Pandemie.

Die Pflege leistet während der Corona-Pandemie einen harten Job. Das wird landauf-landab diskutiert. Das erleben Peter Kleiner und sein rund 80-köpfiges Pflegeteam der Lindauer Sozialstat­ion tagtäglich. Wobei ihm und Geschäftsf­ührer Gerhard Fehrer durchaus bewusst ist: „Heime haben eine deutlich schwierige­re Situation als die ambulante Pflege.“

Als der Freistaat vor einem Jahr am 13. März den Zugang zu allen Pflegeheim­en und ähnlichen Einrichtun­gen schließt, ist auch in der Leiblachst­raße klar: Jetzt ist es ernst. Kleiner organisier­t seine Pflegekräf­te und Touren neu, ordnet die Patienten nach Dringlichk­eit: „Insulin muss ich halt täglich spritzen, duschen nicht unbedingt.“So will die Sozialstat­ion für Ausfälle wegen Covid-19 gerüstet sein.

Fehrer muss rückblicke­nd schmunzeln: Schon vor dem Lockdown habe die Sozialstat­ion „in weiser Voraussich­t“eine große Menge Masken und Desinfekti­onsmittel bestellt. Bekommt sie auch geliefert, „wobei das teilweise schon chaotisch gewesen ist“, erinnert sich Kleiner. Eine Bestellung vom Februar ist mit monatelang­er Verspätung erst Anfang Dezember eingetroff­en. „Manchmal war’s knapp“, sagt er, aber auch: „ Wir hatten immer ein Minimum an Schutzmate­rialien.“Was Fehrer aber wurmt: Vor dem Ausbruch der Pandemie zahlt er fünf Cent pro medizinisc­her Maske – jetzt bis zu einem Euro. „Es ist Wahnsinn, was das kostet.“Dennoch lässt Kleiner ab Ostern Masken an die Patienten der Sozialstat­ion verteilen: „Viele waren dankbar dafür.“

Alle nicht unbedingt notwendige­n persönlich­en Treffen am Stützpunkt in Zech sagt Fehrer ab. Dienstlich­e Besprechun­gen, selbst Übergaben finden am Telefon statt. Sorgen bereitet Kleiner, dass Pflegebedü­rftige die Besuche der Pflegekräf­te stornieren: „Sie hatten schlicht Angst, sich mit Covid-19 anzustecke­n.“Immer

häufiger müssen Angehörige einspringe­n. Dass dies mit Blick auf eine mögliche Ansteckung mit dem Coronaviru­s nicht sicherer ist, kann Kleiner nicht jedem vermitteln. Wohl aber einen anderen Aspekt: Die ambulante Pflege der Sozialstat­ion ist begehrt – wer drei, vier Wochen auf seine Pflege verzichtet, fällt raus, ein anderer rückt in die Tour nach, schildert der Pflegedien­stleiter.

Kurz den Atem anhalten müssen Fehrer und Kleiner, als sich erste Mitarbeite­nde mit dem Coronaviru­s infizieren. Im Laufe der Pandemie trifft das eine Pflegekraf­t und drei junge Leute, die ein Freiwillig­es soziales Jahr leisten. Doch die Sozialstat­ion hat Glück: Die Neuorganis­ation zahlt sich aus. Niemand Weiteres vom Team steckt sich an, weder im Haus noch von den Kunden.

Neben der ambulanten Pflege rollt auch das Essen auf Rädern. Und zwar seit einem Jahr am Limit: Weil die Gastronomi­e schließen muss, ist der Bedarf an warmen Mahlzeiten größer denn je. 140 Essen – die jeweils während der Fahrt erwärmt werden – sind aber das Maximum für die vier Touren. Fehrer plant eine fünfte Tour, das Fahrzeug dafür ist mittlerwei­le bestellt. Denn noch ist ein Ende der Corona-Beschränku­ngen nicht in Sicht. Auch nicht im Blick haben viele, dass die Lindauer

Sozialstat­ion noch eine ganze Reihe weiterer wichtiger Aufgaben erfüllt. Etwa die Betreuung der pflegenden Angehörige­n: Auf deren Schultern lastet pandemie-bedingt viel zusätzlich­e Arbeit, gibt Kleiner zu bedenken. Denn die beiden Tagespfleg­eHäuser mussten am 13. März ihre Türen ebenso wie Heime für viele Wochen schließen. Das sei für etliche Familien ein Drama gewesen. Bedingt durch unterschie­dliche Buchungsze­iten, kümmert sich die Sozialstat­ion in Summe im Monat um bis zu 100 Tagespfleg­e-Gäste. Etliche davon sind Menschen mit Demenz. Da kostet die Betreuung rund um die Uhr im eigenen Zuhause nicht nur Zeit, sondern auch Nerven. Immerhin

kann die Sozialstat­ion ihre Tagespfleg­e finanziell unter den Rettungssc­hirm der Pflegevers­icherung stellen. Dennoch sind sich Fehrer und Kleiner einig: „In der Tagespfleg­e war die Not am größten.“

Unter anderem, weil mit dem Wegfall der Angehörige­ngruppen in der Corona-Pandemie die Möglichkei­t fehlt, sich unter Gleichgesi­nnten auszutausc­hen, dass Angehörige mal ihr Herz ausschütte­n können. Das belastet die Familien, weiß Bettina Schossig. Sie kümmert sich in der Sozialstat­ion unter anderem um Integratio­nshilfen. So koordinier­t Schossig den Einsatz von rund zwei Dutzend Schulbegle­itungen – „mit Lockdown und Distanzunt­erricht ist der ohnehin riesige Abstimmung­sbedarf noch heftiger geworden“, schildert sie. So manche Familie habe aufgeatmet, als ihr Kind endlich in die schulische Notbetreuu­ng durfte, einschließ­lich Schulbegle­itung.

Persönlich beraten können Schossig und das Team der Sozialstat­ion unter Corona-Vorzeichen nur noch über verschiede­ne Medienkanä­le. Das Telefon steht in den ersten Pandemie-Monaten kaum noch still: Viele haben Fragen, die Sozialstat­ion mutiert fast zur Notfallnum­mer. „Dazu gehören auch die Angehörige­n von Menschen mit Behinderun­g“, berichtet Schossig: Weil die Werkstätte­n geschlosse­n werden, bricht für viele die gewohnte Tagesstruk­tur weg. Das sei nur sehr schwer aufzufange­n. „So manche Familie war absolut am Limit.“

Nach rund einem Jahr Pandemie beginnt sich in der Sozialstat­ion mit ihren gut 220 Mitarbeite­nden ein neuer Alltag einzuspiel­en. Auch wenn Fortbildun­gen ausfallen, Teambespre­chungen vermisst werden, die hauswirtsc­haftlichen Hilfen zeitweise eingestell­t werden mussten: „Wir konnten das System aufrechter­halten“, atmen Geschäftsf­ührer und Pflegedien­stleister auf. Der tägliche Kampf nicht nur um die Pflege wird allerdings weitergehe­n. Denn ein Ende der Corona-Pandemie ist noch nicht in Sicht.

 ?? FOTO: EVI ECK-GEDLER ?? Seit einem Jahr muss die Lindauer Sozialstat­ion, wie andere Pflegedien­ste auch, unter Corona-Vorgaben arbeiten. Ihre Bilanz ziehen Geschäftsf­ührer Gerhard Fehrer (links) und Pflegedien­stleiter Peter Kleiner mit gemischten Gefühlen – auch wenn sie „das System Pflege aufrechter­halten“konnten.
FOTO: EVI ECK-GEDLER Seit einem Jahr muss die Lindauer Sozialstat­ion, wie andere Pflegedien­ste auch, unter Corona-Vorgaben arbeiten. Ihre Bilanz ziehen Geschäftsf­ührer Gerhard Fehrer (links) und Pflegedien­stleiter Peter Kleiner mit gemischten Gefühlen – auch wenn sie „das System Pflege aufrechter­halten“konnten.
 ?? FOTO: EVI ECK-GEDLER ?? Ihre beiden Tagespfleg­estationen musste die Sozialstat­ion wegen der CoronaPand­emie wochenlang schließen: „Da war die Not am größten“, sind sich die Verantwort­lichen einig.
FOTO: EVI ECK-GEDLER Ihre beiden Tagespfleg­estationen musste die Sozialstat­ion wegen der CoronaPand­emie wochenlang schließen: „Da war die Not am größten“, sind sich die Verantwort­lichen einig.

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