Britische Corona-Helden beklagen einen „Schlag ins Gesicht“
Die hochgelobten Pflegekräfte des Nationalen Gesundheitsdiensts protestieren gegen eine aus ihrer Sicht dürftige Lohnsteigerung
(dpa) - Die Helden sind empört. „Schlag ins Gesicht“, „erbärmlich“, „schlimmstmögliche Beleidigung“: Fassungslos und tief gekränkt reagieren Verbände, Gewerkschaften und Opposition in Großbritannien, seitdem bekannt wurde, dass die hochgelobten Pflegekräfte des Nationalen Gesundheitsdiensts NHS nur eine Lohnerhöhung um ein Prozent erhalten sollen. Die „Schutzengel der Nation“sehen sich mit Brotkrumen abgespeist. Die Regierung habe ihnen eine lange versprochene Lohnerhöhung entrissen. Schon ist die Rede von Streik.
Gewerkschaften warnen vor einem „Exodus“von Fachkräften. Angesichts einer erwarteten Inflationsrate von 1,5 Prozent handele es sich um eine Reallohnkürzung, betont die Oppositionspartei Labour. Unterm Strich hätten neu eingestellte Pflegekräfte gut 300 Pfund (rund 350 Euro) weniger im Portemonnaie in den kommenden Jahren. Am vergangenen Sonntag demonstrierten NHSMitarbeiter unter anderem in Manchester.
Für die Regierung ist es ein Streit zur Unzeit. Noch immer kämpft das Land mit der Corona-Pandemie, liegen Tausende Corona-Patienten in den Kliniken. Zwar hat Premierminister Boris Johnson einen durchaus realistischen Stufenplan zum Ende der Corona-Maßnahmen angekündigt. Doch dass der Regierungschef, der sich oft kumpelhaft mit NHSKräften gezeigt hat und wegen einer Covid-Erkrankung tagelang im Krankenhaus behandelt wurde, nun den Einsatz der „Frontkämpfer“nicht belohnt, nagt am mühsam aufgebauten Image des Krisenmanagers.
Stattdessen gibt es für die „CovidHelden“warme Worte. Er sei allen „heldenhaften“NHS-Mitarbeitern sehr dankbar, sagte Johnson am Sonntag. In Sachen Lohn aber blieb der Premier hart: „Wir haben versucht, ihnen so viel wie derzeit möglich zu geben.“Sprich: Die Regierung habe kein Geld über. Gesundheitsminister Matt Hancock betonte, die NHS-Kräfte seien aus einer Nullrunde für den öffentlichen Dienst „herausgekratzt“worden.
Doch dass Finanzminister Rishi Sunak bei der Vorstellung seiner Haushaltspläne den NHS nicht erwähnte, sorgte ebenso für Ärger wie Bemerkungen der Pflegestaatssekretärin Nadine Dorries. Sie sei „angenehm überrascht“gewesen, dass überhaupt eine Lohnerhöhung ermöglicht werde, sagte Dorries der BBC. „Pflegekräfte lieben ihre Arbeit. Sie machen ihren Job, weil sie ihren Job lieben.“
Doch das sieht die Pflegekräftevereinigung Royal College of Nursing (RCN) ganz anders. Viele der etwa 450 000 Mitglieder planten, ihren Job aufzugeben, sagte die RCNVertreterin Patricia Marquis dem Times Radio. Einer erfahrenen Kraft bleiben nach der Erhöhung 3,50 Pfund (4,05 Euro) zusätzlich pro Woche, hat RCN errechnet. „Dieser Schlag ins Gesicht hat ihre Überzeugung bekräftigt, dass sie weder von der Regierung noch von Teilen der Öffentlichkeit so geschätzt werden, wie sie es gerne hätten“, sagte Marquis.
Schon sammelt RCN Streikgeld ein. Die Ärztevereinigung British Medical Association erwägt, ihren 159 000 Mitgliedern zu empfehlen, Zusatzschichten zu verweigern.
Premierminister Johnson droht nun sogar auch noch eine Revolte
„Pflegekräfte lieben
ihre Arbeit.
Sie machen ihren Job, weil sie ihren
Job lieben.“
Pflegestaatssekretärin
Nadine Dorries seiner eigenen Konservativen Partei. Ex-Gesundheitsstaatssekretär Dan Poulter betonte, es sei der falsche Zeitpunkt, den Lohn der NHS-Mitarbeiter einzuschränken, die in der Pandemie „über ihre Grenzen“gegangen seien. Und der konservative Abgeordnete Roger Gale sagte dem Sender BBC Radio 4 in einem Interview: „Die Art und Weise, wie dies präsentiert und gehandhabt wurde, war unpassend.“
Politische Kommentatoren in London weisen darauf hin, dass Geld grundsätzlich da zu sein scheint. Für das Bahnprojekt High Speed 2, das wirtschaftlich abgehängte Gebiete in Nordengland besser an die Hauptstadt anschließen soll, sind Milliarden eingeplant. Die Militärausgaben wurden um einen Milliardenbetrag gesteigert – und im Gegenzug Hunderte Millionen Pfund Entwicklungshilfe eingespart. Vorwürfe müssen sich Johnson und Gesundheitsminister Hancock auch gefallen lassen, weil Unternehmen mit Verbindungen zu Unterstützern der Konservativen Partei Aufträge für Corona-Schutzausrüstung im Millionenwert erhalten haben. Ein TV-Studio, das der Premier für seine Pressekonferenzen einrichten ließ, hat 2,6 Millionen Pfund gekostet.
Und schließlich ist da noch der „Ausstattungsskandal“um Johnsons
Amtssitz. Seine Verlobte Carrie Symonds ließ die Dienstwohnung in der Downing Street generalüberholen. Rund 200 000 Pfund soll das gekostet haben. Wie die „Daily Mail“berichtete, soll die Konservative Partei auf Johnsons Bitte hin einen Großteil der Kosten übernommen haben. Nun sollen wohlhabende Unterstützer einspringen, um die umstrittenen Zahlungen auszugleichen, wie die Zeitung weiter schrieb.