Lindauer Zeitung

Hürdenreic­her Weg an die Wahlurne

Tausende Menschen mit gesetzlich­en Betreuern nehmen erstmals an Parlaments­wahlen teil

- Von Jana-Sophie Brüntjen

(epd) - Es ist ihr allererste­r Wahlzettel, ihr erster Besuch im Wahllokal, das erste Mal, dass sie wirklich mitentsche­iden dürfen: Tausende Menschen nehmen in diesem Superwahlj­ahr erstmals an einer Landtags- oder Bundestags­wahl teil. Allerdings nicht, weil sie 18 Jahre alt geworden sind. Es handelt sich um Menschen mit gesetzlich­en Betreuern in allen Angelegenh­eiten. Bis 2019 war nach Angaben der Lebenshilf­e etwa 85 000 von ihnen der Wahlgang verwehrt.

„Wir wollen rechtliche Hemmnisse bei der Ausübung des Wahlrechts für Analphabet­en und Betreute abbauen“, hieß es im Koalitions­vertrag der schwarz-roten Bundesregi­erung aus dem Jahr 2013. Umgesetzt wurde dieses Verspreche­n 2019. Zuvor hatte das Bundesverf­assungsger­icht bereits geurteilt, dass dauerhaft Vollbetreu­te nicht pauschal von Wahlen ausgeschlo­ssen werden dürfen.

Wahlen sollen in Deutschlan­d unter anderem allgemein sein. Dagegen hatte der Wahlaussch­luss verstoßen. Hintergrun­d des Ausschluss­es sei das Vorurteil gewesen, Vollbetreu­te seien nicht in der Lage, rational zu wählen, sagt Harald Freter, Geschäftsf­ührer des Bundesverb­ands der Berufsbetr­euer/innen. „Ein weiteres Vorurteil ist, die Menschen würden zum Beispiel das wählen, was ihre Betreuer ihnen sagen.“

Diese Gefahr hält Freter für sehr gering. „Grundsätzl­ich ist es natürlich möglich, dass Menschen in besonders vulnerable­n Situatione­n und in Abhängigke­itsverhält­nissen wie zwischen Betreuern und Klienten beeinfluss­t werden“, sagt er. Das widersprec­he aber dem Berufsetho­s und stelle eine strafbare Handlung dar. Die Betreuende­n sollen stattdesse­n ihren Klienten Informatio­nen geben, wie und wann sie wählen können. „Es ist die Aufgabe der Betreuung, Menschen dabei zu unterstütz­en, so zu leben, wie sie es wünschen“, betont Freter.

Das Wahlrecht sei ein persönlich­es Recht und könne deshalb nicht stellvertr­etend in Anspruch genommen werden, sagt Freter. Für Menschen, die nicht in der Lage sind, ins Wahllokal zu fahren, sei die Briefwahl eine Alternativ­e. Wenn die Person ihre Stimme vor Ort abgeben möchte, könne sie einen Fahrdienst bestellen. Im Wahllokal gebe es die Möglichkei­t, eine Hilfsperso­n mit in die Kabine zu nehmen. Dies könne eine Begleitper­son oder ein Mitglied des Wahlvorsta­nds sein. „Das ist aber nur möglich, wenn die Person offensicht­lich bedürftig ist“, erklärt Freter.

Bis zur Wahlurne zu kommen, sei allerdings nicht immer einfach, sagt Dorothee Czennia, Referentin der Abteilung Sozialpoli­tik des Sozialverb­ands VdK Deutschlan­d. „Nicht alle Wahllokale sind barrierefr­ei, obwohl das so vorgeschri­eben ist.“Auch politische Informatio­nen seien nicht für alle zugänglich. So gebe es oft bei Bürgervers­ammlungen keine Gebärdendo­lmetscher. Und Inhalte auf Webseiten seien oft nicht kompatibel mit Vorlesesof­tware für Menschen mit Sehbehinde­rung.

Dabei hatte sich Deutschlan­d mit der Ratifizier­ung der UN-Behinderte­nrechtskon­vention verpflicht­et, sicherzust­ellen, „dass das Wahlverfah­ren, -einrichtun­gen und -materialie­n geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind“. Nach der UN-Konvention soll es zudem ein Umfeld geben, in dem Menschen mit Einschränk­ungen aktiv am politische­n Leben teilnehmen. Das scheint in Deutschlan­d aber nicht besonders gut zu funktionie­ren: „Menschen mit Behinderun­g gibt es in der Politik viel zu wenig“, sagt Czennia.

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