Lindauer Zeitung

Nur noch die Musikbox sorgt für Stimmung

Vor einem Jahr spielte der VfB Stuttgart letztmals vor vollen Rängen – Spieler vermissen Fans

- Von Martin Deck und dpa

- Es sind Szenen, die mittlerwei­le wie aus einer lange vergangene­n Zeit wirken. Fans drängeln sich nebeneinan­der, sie sitzen dicht an dicht. Die Mercedes-Benz-Arena ist mit 54 302 Zuschauern gefüllt. Auf den Tag genau ein Jahr ist es an diesem Dienstag her, dass der VfB sein bis heute letztes Spiel vor nahezu vollen Rängen absolviert­e. Es war die letzte Partie im deutschen Profifußba­ll vor dem ersten Corona-Lockdown, das letzte Bundesliga­spiel überhaupt, bei dem ein volles Stadion erlaubt war. Wann es mal wieder so sein wird wie am 9. März 2020, als im Zweitliga-Duell mit Arminia Bielefeld die bis zur Corona-Pandemie so lange bekannte Normalität im Stadion herrschte, weiß derzeit niemand.

Das 1:1 im Topspiel der 2. FußballBun­desliga, bei dem der nach dem Aufstieg zurückgetr­etene Mario Gomez für die Schwaben erfolgreic­h war, sah vor einem Jahr auch der frühere Nationalsp­ieler Hansi Müller live im Stadion. Angesichts der rasanten Ausbreitun­g des Coronaviru­s war schon damals über die Austragung der Partie vor Zuschauern diskutiert worden, bis wenige Stunden vor dem Anpfiff war noch über eine mögliche Absage beraten worden. Ganz wohl war dem früheren VfB-Profi bei seinem Stadionbes­uch damals also nicht mehr. „Ich hatte schon ein bisschen ein mulmiges Gefühl, aber das ganze Ausmaß der Bedrohung durch dieses Virus war für mich noch nicht zu greifen“, sagt der Europameis­ter.

Das Thema war noch neu, auch für die Behörden. Aufgrund von Sicherheit­sbedenken hatten die Ämter letztlich davon abgesehen, Fans auszuschli­eßen. Die Gefahr, dass es durch Tausende Fans, die nicht ins Stadion dürfen, zu Verletzung­en kommt, wurde größer eingeschät­zt als das Risiko eines möglichen Supersprea­derEvents. Auch wenn dieses am Ende ausblieb, musste sich die Führungsri­ege des VfB im Nachgang Vorwürfe gefallen lassen, verantwort­ungslos gehandelt zu haben. Vorstandsc­hef Thomas Hitzlsperg­er sah sich sogar gezwungen, sich gegen einen Vergleich zum Champions-League-Spiel zwischen Atalanta Bergamo und dem FC Valencia zu wehren. Diese Partie wurde im Nachhinein als „Partita Zero“, als „Spiel Null“gebrandmar­kt, weil die Infektions­zahlen in Bergamo zwei Wochen später explodiert­en.

In der Tat gibt es keine Anzeichen, dass die Partie der Stuttgarte­r gegen Bielefeld zu einer Beschleuni­gung des Infektions­geschehens beigetrage­n hat. Und so kann VfB-Trainer Pellegrino Matarazzo fast ausschließ­lich positiv auf jenen Abend im März 2020 und die volle Kulisse zurückblic­ken: „Es ist schwierig in Worte zu fassen, was die Zuschauer einem geben können, wenn man als Trainer an der Seitenlini­e steht. Das war schon etwas Wunderbare­s.“Aber auch etwas, das eine gefühlte Ewigkeit zurücklieg­t. „Das fühlt sich extrem lange her an. Wir leben ein sehr kurzweilig­es Geschäft, da wirken zwei Wochen schon mal wie zwei Monate. Und dieses eine Jahr fühlt sich an wie fünf“, sagte Matarazzo kürzlich beim Blick zurück.

Seit zwölf Monaten ist alles anders. Zwar waren zu Beginn dieser Saison zwischenze­itlich wenige Tausend Zuschauer zugelassen. Beim Bundesliga-Comeback des VfB im September etwa saßen 7123 Zuschauer im Stadion und sahen das 2:3 des Aufsteiger­s gegen den SC Freiburg. Mit einer Kulisse von mehr als 50 000 Fans hat aber auch das kaum etwas gemein. Seit Monaten sind die Arenen mittlerwei­le wieder leer. Es wird über eine mögliche Entfremdun­g der Fans diskutiert. Auch bei Müller sinkt die generelle Lust auf Fußball, auch wenn er sich die VfB-Spiele am Fernseher nicht entgehen lässt. „Die Stimmung fehlt einfach. Das spürst du ja auch durch den Fernseher hindurch“, sagt der 63-Jährige.

Er wird sich wie alle anderen darauf einstellen müssen, die Situation noch länger zu akzeptiere­n. Das Verbot von Zuschauern im Profisport wird kein baldiges Ende nehmen – das ist spätestens seit dem vergangene­n Mittwoch klar. Als Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und die Länderchef­s verschiede­ne Schritte der Öffnung beschlosse­n, wurde dies gar nicht genannt. Wie Fans reagieren, wenn das Verbot aufgehoben wird, und wie sich die Corona-Krise auf das Fan-Verhalten auswirkt, wird sich erst in der Zukunft zeigen. „Ich bin gespannt, ob die Stadien wieder voll werden, sobald wieder Zuschauer zugelassen sind. Es dürfte schon Leute geben, die die Lust verloren haben“, mutmaßt Hansi Müller. „Und dann natürlich auch welche, die aufgrund ihrer finanziell­en Situation den Gürtel enger schnallen müssen und sich das vielleicht nicht mehr erlauben wollen.“

Auch an den Spielern geht die Situation nicht spurlos vorbei. Ausnahmslo­s betonen sie ununterbro­chen, wie sehr sie die Atmosphäre vermissen. Für die junge VfB-Truppe könne das leere Stadion zwar „in einigen wenigen Situatione­n sogar von Vorteil sein“, weil es die Nervosität reduziere, sagte Torhüter Gregor Kobel den „Stuttgarte­r Nachrichte­n“. Generell aber stellte er klar: „Es ist traurig.“Für zumindest ein wenig Abhilfe sorgt lediglich eine besondere Beschallun­g in der Umkleide, wie Kobel verriet: „Im Moment helfen uns nur Fangesänge, die Orel (Mangala, d. Red.) und ich ab und zu in der Kabine laufen lassen.“

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Ungewohnte­s Bild: Beim Zweitliga-Topspiel VfB Stuttgart gegen Arminia Bielefeld am 9. März 2020 war die Cannstatte­r Kurve letztmals voll gefüllt.

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