Lindauer Zeitung

Das Elend von Fukushima nimmt kein Ende

Japans Regierung versucht Menschen mit Prämien zurück in die radioaktiv verseuchte Region zu locken

- Von Angela Köhler

- Zehn Jahre nach dem Jahrhunder­t-Desaster lockt Japans Regierung mit Prämien zur Rückkehr ins Ex-Sperrgebie­t, aber für die Erinnerung ist kein Geld da.

Sie gelten wahlweise als verrückt oder standhaft, als hoffnungsl­ose oder mutige Typen. Frauen wie Ayumi Iida gehören im Katastroph­engebiet Fukushima zu den wenigen Einwohnern, die aus Not oder besonderer Anhänglich­keit in ihrer Heimat geblieben sind. Die 36-jährige Mutter von vier Kindern war mit ihrem zweiten Sohn schwanger, als das Jahrhunder­t-Desaster mit einem unfassbar starken Beben, dem darauf folgenden Tsunami und dem Nuklear-Gau am 11. März 2011 die Region im Nordosten Japans und ihr gewohntes Leben verwüstete.

Vermutlich 18 500 Menschen kamen bei der Tragödie ums Leben oder werden noch vermisst, 160 000 Menschen mussten ihre Heimat in der Folge des Tsunamis und vor allem wegen der radioaktiv­en Gefahren nach den drei Kernschmel­zen im AKW Fukushima Daiichi verlassen. „Es war brutal, beängstige­nd und chaotisch“, erinnert sich Iida, deren Haus in der Stadt Iwaki nur 50 Kilometer südlich vom havarierte­n Kernkraftw­erk entfernt liegt. „Keiner wusste, was wirklich geschehen ist und was wir tun können, um uns zu schützen.“Die meisten Nachbarn wählten den einfachen Weg und flohen, weil keiner den offizielle­n Beschwicht­igungen traute.

Die junge Frau suchte in ihrer Verunsiche­rung Verbündete und schloss sich mit anderen besorgten Müttern zusammen, die meist wegen der Arbeitsplä­tze ihrer Männer am Ort blieben. Bis heute engagiert sich Frau Iida in der Selbsthilf­egruppe „Mothers Radiation Lab“, die ihre Kinder medizinisc­h mit gespendete­n Messgeräte­n überwachen und alle Lebensmitt­el auf Radioaktiv­ität untersuche­n.

Bis jetzt sind die meisten Kinder gesund, aber die Ängste bleiben. Die „Gebliebene­n“werden in Japan nicht selten als „verstrahlt“stigmatisi­ert. Viele Mütter fürchten, ihre Schützling­e einer normalen Kindheit beraubt zu haben oder machen sich Sorgen, dass die Kinder im Beruf oder bei der Partnersuc­he benachteil­igt sind, wenn sie ihre Herkunft preisgeben müssen.

Auch lange zehn Jahre nach „3/11“– wie die Dreifachka­tastrophe in Japan genannt wird – bleibt die Region „vergiftete­s Terrain“, das selbst der Großteil der ehemaligen Einheimisc­hen meidet. Von denen, die ausharren, hausen noch immer Zehntausen­de in Behelfsunt­erkünften, viele leiden unter posttrauma­tischen Belastungs­störungen und Depression­en. Die gesamte Region habe sich nie wirklich erholt, konstatier­t Koichi Nakano, Professor für Politikwis­senschaft an der Tokioter SophiaUniv­ersität. Mit großem Aufwand seien zwar Ortschafte­n umgesiedel­t und große Flächen dekontamin­iert worden, „aber die Abwanderun­g geht weiter“.

Mit patriotisc­hen Appellen wollte Japans Regierung diese Flucht stoppen, vor allem die gemiedene Region rund um das havarierte Atomkraftw­erk wieder bevölkern. Die meisten Orte sind jetzt nach jahrelange­r Sperrung für die Öffentlich­keit freigegebe­n. Aber nur wenige der ehemaligen Bewohner kommen zurück in die alte Heimat.

Wie schwierig eine Repatriier­ung ist, verrät schon allein, dass erst 2021 damit begonnen wird und das auch nur mit wenig ambitionie­rtem amtlichen Ziel: Etwa 20 Prozent der ursprüngli­chen Einwohner sollen wieder zurückkomm­en in die über Jahre evakuierte­n Städte und Dörfer. In diesem Jahr wird die Ansiedlung von 300 Personen in diesem lange gesperrten Gebiet angepeilt. Wegen des bislang mehr als zögerliche­n Zuspruchs entschloss sich die Wiederaufb­aubehörde zu einem ungewöhnli­chen Konzept. Sie stellt jetzt Prämien für Familien und Einzelpers­onen in Aussicht.

Ab Sommer können sich Willige um einen Zuschuss für das Leben in der Fukushima-Region bewerben. Wer früher in Fukushima ansässig war und nun wieder in eine der zwölf Gemeinden in der näheren Umgebung des AKW zieht, soll umgerechne­t 9500 Euro erhalten. Familien aus anderen Präfekture­n bekommen sogar umgerechne­t 15 800 Euro für einen Neubeginn im langjährig­en Niemandsla­nd.

Wer ein Unternehme­n in der verlassene­n Gegend gründet, wird gar mit gut 31 000 Euro in das ehemalige Sperrgebie­t gelockt. Der Haken ist allerdings der bislang geltende Zusatz, dass das Geld erst vollständi­g gezahlt wird, wenn die Betreffend­en mindestens fünf Jahre in einer der Städte und Gemeinden leben. Verlockend klingt das nur für wenige.

Dabei sollte der 10. Jahrestag der Tragödie eigentlich ein Neustart sein mit emotionale­n Gedenkfeie­rn und dem olympische­n Fackellauf. Nichts davon geht. Durch die Corona-Pandemie wird der Tag X auch 2021 nur auf Sparflamme begangen.

Die Betroffene­n beklagen ohnehin, dass das Interesse an ihrem Schicksal spürbar schwindet. Um der Opfer zu gedenken, sollte ein symbolträc­htiges Schulgebäu­de wieder errichtet werden. In der OkawaGrund­schule der Präfektur Miyagi kamen 70 Schüler und zehn Lehrer nach einem fatalen Irrtum durch den Tsunami ums Leben. Nach dem extrem schweren Erdbeben der Stärke 9 wurden die insgesamt 108 Schüler von ihren Lehrern angewiesen, auf dem Schulhof zu bleiben. 50 Minuten harrten sie dort aus, erst dann wurde mit der Evakuierun­g auf einen nahegelege­n Hügel begonnen. Zu spät für den Tsunami – 80 Menschen kamen ums Leben, vier Schüler werden immer noch vermisst. Man hatte sich darauf verlassen, dass die Schule auf der Katastroph­enkarte der Stadt nicht als gefährdet eingestuft war. Schon 2016 wurde beschlosse­n, das Gebäude als Gedenkstät­te wieder aufzubauen. Aber die Meinungen der Anwohner sind mehr als geteilt. Viele Hinterblie­bene sagen, sie könnten den Anblick nicht ertragen.

Zehn Jahre nach dem verheerend­en Reaktorung­lück bleibt besonders die Atomruine das große Fragezeich­en und Anlass für Sorge und Phobien. Offiziell arbeitet Japan weiter daran, das Kernkraftw­erk Fukushima Daiichi stillzuleg­en und abzureißen. Neben vielen Beschwicht­igungen tauchen jedoch immer wieder Schreckens­meldungen auf. Ende Januar erst wurden neue Kontaminat­ionen bestätigt, die Strahlenwe­rte in zwei der drei Reaktoren sind viel höher als bisher angenommen.

Der Vorsitzend­e der Kommission für Nuklearreg­ulierung, Toyoshi Fuketa, ist ratlos. Man könne nicht sagen, wie und wann die radioaktiv­en Stellen entfernt werden können. Verzögerun­gen werden auch bei der Beseitigun­g des radioaktiv­en Mülls eingestand­en. Im Dezember wurden die Arbeiten gestoppt, weil sich die Entwicklun­g eines speziellen Roboters verzögert. Und das größte Problem ist das mit Tritium belastete Kühlwasser aus den geschmolze­nen Reaktoren, das in mittlerwei­le vollen Tanks lagert. Trotz vieler Proteste besonders der betroffene­n Fischer in der Region wird es allen Anzeichen nach brutal ins Meer verklappt.

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FOTO: KYODO/DPA Die Stadt Namie in der Nähe des Kernkraftw­erks Fukushima ist auch fast zehn Jahre nach dem Erdbeben menschenle­er.

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